bild der wissenschaft: Herr Professor Schöler, Sie waren schon an mehreren Durchbrüchen in der Stammzellforschung beteiligt …
Hans Schöler: Wobei der Wissenschaftler den Begriff „ Durchbruch” nicht gerne hört! Wir haben wichtige Beiträge geleistet, ja. Aber als Durchbruch bezeichnet man etwas, was den gesamten wissenschaftlichen Bereich nach vorne katapultiert. Und das würde ich zulassen für die Publikation von Yamanaka – die erste Beschreibung der Reprogrammierung von Hautzellen mit einem Cocktail aus vier Genen. Als wir vor sieben Jahren Eizellen aus embryonalen Stammzellen hergestellt haben, war das zwar eine Premiere: Wir konnten erstmals zeigen, dass man in der Kulturschale Eizellen generieren kann. Wir müssen aber immer noch deren Funktionalität nachweisen. Sollten wir das eines Tages schaffen, würde das in Richtung Durchbruch gehen. Sie sehen, ich bin vorsichtig mit dem Begriff.
Und das Reprogrammieren differenzierter Zellen allein mit Proteinen, also ohne dass man Gene einschleusen muss – das würden Sie nicht als Durchbruch bezeichnen?
Das war ein wichtiger Schritt. Aber es war auch etwas, das sich aus dem ergeben hat, was vorher publiziert worden ist. Es gehört zum Füllen von Lücken in einem Bild. Yamanaka hat das Bild angefangen, nun füllen andere es mit Leben.
Sie haben einfach die Proteine genommen, die die Produkte der von Yamanaka verwendeten Gene sind?
Das stimmt. Aber genauso hat auch er sich auf unsere Schultern gestellt. Denn wir hatten in den Jahren zuvor zwei der vier von ihm verwendeten Faktoren intensiv untersucht, Oct4 und Sox2, und wichtige Erkenntnisse beigesteuert. Das sind nämlich die Faktoren, die die Spezifität ermöglichen: Dass die Zellen pluripotent werden, ist durch Oct4 und Sox2 bedingt. Die anderen beiden sind allgemein wirkende Faktoren, die die Vermehrung der Zellen steigern – und übrigens auch beim Krebs eine Rolle spielen.
Glauben Sie denn, dass das rasante Tempo in der Stammzellforschung anhält?
Ich bin zuversichtlich, dass es die nächsten Jahre in diesem Tempo weitergehen wird. Meine Kollegen haben in Amerika mit dem neuen Präsidenten eine regelrechte Aufbruchstimmung erlebt. Bush hatte das Land wissenschaftlich schon ein wenig gelähmt. Jetzt steckt allein der Bundesstaat Kalifornien drei Milliarden Dollar in die Stammzellforschung. Insgesamt setzt man in Amerika derzeit sehr, sehr stark auf die regenerative Medizin. Und der Rest der Welt orientiert sich daran.
Sind die USA immer noch der Vorreiter in der Stammzellforschung?
Ja. Es gibt gute andere Länder, dazu gehören Deutschland, England und andere europäische Länder, aber die USA sind in der Stammzellforschung sehr weit vorneweg. Ich würde sagen: 70 bis 80 Prozent der Musik spielen in den USA. Schauen Sie sich Boston an und im Vergleich dazu ganz Deutschland – wer würde da das Rennen machen?
Boston?
Ich denke schon. Da gibt es Harvard, das Whitehead-Institut, das MIT, das Broad-Institut – die Konzentration der Wissenschaftler dort ist gewaltig.
Und Sie bereuen nicht, dass Sie nach Deutschland zurück- gekehrt sind?
Nein, ganz und gar nicht. Ich bin international sehr gut vernetzt. Ich bin ganz begeistert, dass ich jetzt zusammen mit einem Kollegen aus Portland/Oregon Forschungsgelder von den National Institutes of Health bekommen habe – das ist ja auch eine Aussage, wenn die Amerikaner unsere Forschung mitfinanzieren! Ich publiziere viel mit Kollegen aus Japan und aus Südkorea. Ob ich jetzt hier bin oder dort, ist nicht so wichtig. Natürlich hat man an Hotspots wie Boston mehr Interaktionsmöglichkeiten und kann bestimmte Dinge schneller voranbringen. Aber ich denke, wir schlagen uns hier in Münster ganz gut. Wir haben ein gutes Umfeld, eine gute medizinische Fakultät. Und die Max-Planck-Gesellschaft erlaubt uns, auch mal das Ungewöhnliche zu erforschen. Ich kann hier ein ganz neues Gebiet beginnen und werde von Anfang an gefördert. In den USA müssen Sie die Hälfte der Experimente schon durchgeführt haben, wenn Sie den Antrag stellen, erst dann bekommen Sie Geld für neue.
Was für ein Gebiet haben Sie denn neu begonnen?
Mein Mitarbeiter Luca Gentile ist hier 2005 in die Forschung mit Planarien, also Plattwürmern, eingestiegen – und gerade jetzt, Anfang April 2010, hat die renommierte entwicklungsbiologische Zeitschrift „Development” unsere erste Planarien-Publikation veröffentlicht. Das zeigt, dass es mitunter lange dauern kann, bis sich etwas Neues etabliert hat.
Was ist so spannend an den Plattwürmern?
Sie sind extrem regenerationsfähig, weil bis zu einem Drittel ihrer Zellen Pluripotenz zeigen, also die Fähigkeit, eine Vielfalt von Körperzellen herzustellen. Wir wollen wissen: Was haben diese Zellen in den Plattwürmern gemeinsam mit den embryonalen Stammzellen? Die Max-Planck-Gesellschaft ermöglicht solche Forschung, sie erlaubt das kreative wissenschaftliche Spielen. Und darum beneiden uns die amerikanischen Kollegen ein wenig, die oft aus dem Anträgeschreiben nicht herauskommen.
Welche Rolle spielen momentan die embryonalen Stammzellen des Menschen, um die man sich so sehr gestritten hat?
Die spielen immer noch eine sehr wichtige Rolle. Wir können zwar durch die reprogrammierten iPS-Zellen Experimente, die wir uns heute überlegen, sofort angehen. Vorher war es so, dass wir zunächst einen Antrag an das Robert Koch-Institut stellen mussten, wo die Experimente von der „Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellforschung” begutachtet wurden. Das geht zwar schnell, aber mit sechs bis acht Wochen muss man schon rechnen, bis der Bescheid kommt – ein Nachteil gegenüber dem Ausland. Nichtsdestotrotz benötigen wir für bestimmte Experimente die embryonalen Stammzellen als Messlatte, um zu sehen, ob ein Verfahren mit den iPS-Zellen tatsächlich funktioniert.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Man weiß bereits, dass man aus embryonalen Stammzellen Herzmuskelzellen züchten kann. Mit diesem Wissen versucht man, auch iPS-Zellen in Herzmuskelzellen umzuwandeln. Jetzt fragt man sich: Sind diese Kardiomyozyten genauso gut wie die von embryonalen Stammzellen abgeleiteten?
Und was zeigen die Vergleiche?
Da gibt es schon Unterschiede. Wir wissen nur leider nicht, wie relevant sie sind. Wir untersuchen das mit Maus-Experimenten. Eine Nagelprobe ist die sogenannte tetraploide Aggregation. Dafür werden im frühen Embryonalstadium zwei Zellen fusioniert, sodass eine Zelle mit vierfachem Chromosomensatz entsteht. Diese teilt sich und bildet ausschließlich extraembryonales Gewebe. Wenn man nun 12 bis 15 embryonale Stammzellen mit normalem Chromosomensatz zwischen zwei tetraploide Zellschichten steckt, wie in ein Sandwich, dann können daraus lebensfähige Mäuse wachsen. Mit iPS-Zellen klappt das aber nur ganz selten.
In China ist es aber gelungen.
Das ist in zwei Laboren in Peking gelungen und wurde bisher insgesamt viermal publiziert. Aber es ist ganz klar, dass die Zellen, die man durch Reprogrammierung gewinnt, nicht so perfekt sind. Wenn man embryonale Zellen durch Kerntransfer gewinnt – wie beim therapeutischen Klonen –, also den Kern einer Körperzelle in eine Eizelle bringt und dann im Bläschenstadium embryonale Stammzellen isoliert, ist das Verfahren ebenfalls relativ effizient. Das heißt: Wenn man durch das Stadium der Totipotenz geht, also an den Anfang der Embryonalentwicklung, ist die tetraploide Aggregation vergleichsweise wirkungsvoll. Geht man nur bis zur Pluripotenz zurück, wie bei der Reprogrammierung, ist es ein ausgesprochen ineffizientes Verfahren. Was für mich ein Hinweis darauf ist, dass die iPS-Reprogrammierung noch nicht perfekt ist.
Meinten Sie nicht vor fünf Jahren noch, dass es überhaupt nicht klappen würde mit der Reprogrammierung?
Nein, das war anders. Patrick Illinger von der Süddeutschen Zeitung hatte mich im Februar 2005 gefragt: Was, glauben Sie, ist wahr, auch wenn Sie es nicht beweisen können? Da habe ich ihm gesagt: Ich denke, es wird eines Tages möglich sein, Zellen mithilfe eines Cocktails wie auf einem Verschiebebahnhof hin- und herzuschieben – etwa aus Muskelzellen Nervenzellen zu machen, indem man über das Stadium der Pluripotenz geht. Yamanaka hat eben dies geschafft, und zwar schneller als ich dachte. Und wenn ich mir nun ansehe, dass es dem österreichischen Wissenschaftler Marius Wernig in Stanford mit einem anderen Cocktail vor Kurzem gelungen ist, Fibroblasten der Haut ohne den Umweg über Stammzellen direkt in Nervenzellen zu verwandeln, dann geht das noch einen Schritt weiter.
Aufregend! Gibt es denn ein Gebiet in der Biologie, das Sie genauso spannend finden wie die Stammzellforschung?
Was mich immer fasziniert hat, ist das, was uns mit unseren Vorfahren verbindet – die sogenannte Keimbahn. Wie kommt es, dass unsere Erbsubstanz von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird, ohne dass sie mutiert wie in den Körperzellen? Wie wird sie intakt gehalten, sodass unsere Kinder genauso gesund sind wie wir? Als Kind habe ich stundenlang das Verhalten von Schlupfwespen und Spinnentieren studiert, im Grundstudium hat mich ein Buch mit dem Titel „What is Life?” fasziniert. Zöge ich mich heute von der Wissenschaft zurück, würde ich mich wieder in ein paar biologische Wälzer vertiefen. Natürlich interessiert es mich am meisten, dem Ganzen molekular auf den Grund zu gehen: Die Schönheit einer komplizierten molekularen Struktur ist für mich genauso unglaublich wie die Schönheit eines Vogels oder die eines sich entwickelnden Embryos. Die Biologie hat sehr viel Schönes zu bieten! ■