Die linke Dominanz prägt sich erst später aus: Im Gegensatz zu Erwachsenen nutzen Kinder zur Spracherfassung noch eher beide Gehirnhälften, geht aus einer Studie hervor. Die Ergebnisse legen somit eine spezielle Bedeutung der rechten Hemisphäre während der Sprachentwicklung nahe. Sie könnten auch erklären, warum sich Kinder vergleichsweise gut von linksseitigen Hirnverletzungen erholen, sagen die Wissenschaftler.
Wo in unserem Gehirn werden bestimmte kognitive Aufgaben erledigt? Was die Verarbeitung von sprachlichen Höreindrücken betrifft, haben Untersuchungen bisher ergeben, dass bei den meisten Menschen dafür Areale in der linken Hirnhälfte zuständig sind. In der Regel zeigt die rechte Hemisphäre hingegen vergleichsweise wenig Aktivität beim Erfassen von Sprache. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass Menschen, die einen linksseitigen Schlaganfall erlitten haben, häufig von einem irreversiblen Sprachverlust betroffen sind.
Fragender Blick auf die Hirn-Hemisphären
Bisher gab es dabei allerdings ein Rätsel: Kleine Kinder können Sprachfähigkeiten entwickeln beziehungsweise wiedererlangen, auch wenn ihre linke Gehirnhälfte stark geschädigt ist – ihre rechte Hirnhälfte kann die Ausfälle offenbar in Teilen kompensieren. Eine mögliche Erklärung für diese Flexibilität wäre, dass die Sprachverarbeitung früh im Leben noch auf Aktivitäten in beiden Hirnhälften beruht. Dazu gab es bisher aber keine eindeutigen Nachweise. “Es war unklar, ob eine starke linke Dominanz für Sprache bei der Geburt vorhanden ist oder erst allmählich während der Entwicklung auftritt”, erklärt Elissa Newport vom Georgetown University Medical Center in Washington. Dieser Frage sind sie und ihr Team nun durch detaillierte Untersuchungen mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) nachgegangen.
An der Studie nahmen 39 gesunde Kinder im Alter von 4 bis 13 Jahren teil sowie 14 Erwachsene im Alter von 18 bis 29 Jahren. Während bei allen Studienteilnehmern die Hirnaktivität in beiden Hemisphären detailliert durch die fMRT erfasst wurde, bekamen sie eine Aufgabe, die das Verständnis von gesprochenen Sätzen erforderte. Anschließend verglichen die Forscher die dabei entstandenen Muster der Hirnaktivität bei den Probanden, die sie vier Altersgruppen zuordneten: 4 bis 6, 7 bis 9, 10 bis 13 und 18 bis 29 Jahre.
Aus den Auswertungen der Hirnscans ging hervor, dass zwar prinzipiell auch bei kleinen Kindern die linke Gehirnhälfte bei der Sprachverarbeitung dominiert. Doch im Gegensatz zu Erwachsenen zeigen Hirnregionen der rechten Hemisphäre ebenfalls noch deutliche Aktivität. Es handelt sich dabei um Bereiche, die denen der linken Seite entsprechen. Bei Erwachsenen werden sie den Forschern zufolge aber in der Regel bei anderen Aufgaben aktiviert – beispielsweise bei der Verarbeitung von Emotionen, die mit der Stimme ausgedrückt werden.
Rechte Aktivität zeichnet sich ab
Bei den kleineren Kindern sind hingegen die korrespondierenden Areale in beiden Hemisphären jeweils damit beschäftigt, die Bedeutung von Sätzen zu verstehen und die emotionale Wirkung zu erkennen, sagen die Wissenschaftler. Dieses Verarbeitungsmuster verschiebt sich dann systematisch mit zunehmendem Alter, geht aus den Untersuchungsergebnissen hervor. „Vermutlich ist die vergleichsweise hohe Aktivierung der Bereiche in der rechten Hemisphäre bei Satzverarbeitungsaufgaben und der langsame Rückgang dieser Aktivierung im Laufe der Entwicklung Ausdruck von Veränderungen in der neuronalen Verteilung von Sprachfunktionen”, sagt Newport.
Neben der möglichen Bedeutung für die Hirnentwicklung sehen die Forscher in dem Befund nun auch eine mögliche Erklärung dafür, dass sich Kinder viel leichter von linksseitigen Nervenverletzungen erholen als Erwachsene. “Die Verwendung beider Hemisphären bietet offenbar eine Möglichkeit zur Kompensation. Wenn die linke Seite durch einen Schlaganfall geschädigt ist, der direkt nach der Geburt aufgetreten ist, kann das Kind Sprache unter Verwendung der rechten Hemisphäre lernen. Unsere Studie zeigt, wie das möglich sein könnte”, sagt Newport. “Wir haben jetzt eine bessere Grundlage, auf der wir Gehirnverletzungen und Genesung besser verstehen können“, so die Wissenschaftlerin.
Sie und ihre Kollegen wollen nun am Ball bleiben: Sie planen ihre Untersuchungen auf noch jüngere Kinder auszuweiten. „Es könnte sein, dass wir eine noch größere funktionelle Beteiligung der rechten Hemisphäre an der Sprachverarbeitung bei kleineren als unseren jüngsten Studienteilnehmern sehen”, sagt Newport. Außerdem wollen die Forscher nun die Sprachaktivierung bei Teenagern und jungen Erwachsenen untersuchen, die bei der Geburt einen schweren Schlaganfall in der linken Hemisphäre des Gehirns erlitten haben.
Quelle: Georgetown University Medical Center, Fachartikel: PNAS, doi: 10.1073/pnas.1905590117