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Spaciger Verlust von Blutkörperchen

Weltraumanämie

Spaciger Verlust von Blutkörperchen
Astronaut Tim Peake gibt auf der ISS eine Blutprobe ab. (Bild: NASA)

Eine Studie hat aufgedeckt, was hinter dem bekannten Phänomen der „Blutarmut“ bei Astronauten steckt: Bei Aufenthalten in der Schwerelosigkeit übersteigt der Verlust an roten Blutkörperchen das normale Maß bei weitem und wird offenbar nur bis zu einem gewissen Grad kompensiert. Die Weltraumanämie schwindet zwar nach der Landung, der zugrundeliegende Effekt macht sich aber noch mindestens ein Jahr lang bemerkbar. Damit haben die Ergebnisse eine Bedeutung für die Raumfahrt. Zudem kann die Erforschung der Weltraumanämie Licht auf irdische Versionen von Blutarmut werfen, sagen die Wissenschaftler.

Keine Schwerkraft zerrt mehr am Körper und auch in seinem Inneren läuft plötzlich alles in der Schwebe ab: Es erscheint fast verwunderlich, dass der Mensch überhaupt mit den unnatürlichen Bedingungen bei Weltraumaufenthalten zurechtkommt. Doch wie zahlreiche Untersuchungen gezeigt haben, gibt es durchaus einige kritische Effekte und gesundheitliche Risiken. So ist bereits lange bekannt, dass sich das Blut von Astronauten verändert: Seit den ersten Weltraummissionen wurde bei der Rückkehr von Astronauten zur Erde immer wieder von einer Anämie berichtet. Dabei handelt es sich um eine Verringerung des Gehalts an den Sauerstoff-transportierenden Zellen im Blut – den Erythrozyten.

Welche Effekte liegen zugrunde?

Was die Ursache der Weltraumanämie ist, blieb bisher mysteriös. Konkret war bisher unklar, ob eine geringere Produktion oder aber ein erhöhter Abbau der Blutkörperchen die Ursache ist, wann die Effekte auftreten und wie lange sie andauern. Diesen Fragen sind die Wissenschaftler um Guy Trudel von der University of Ottawa im Rahmen des Projekts MARROW nachgegangen, das der Untersuchung der Gesundheit des Knochenmarks und der Blutproduktion im Weltraum gewidmet ist. Die Untersuchungsdaten für die aktuelle Studie lieferten dabei elf männliche und drei weibliche Astronauten, die im Durchschnitt 167 Tage lang auf der Internationalen Raumstation ISS verbracht hatten.

Bei ihrer Studie gingen die Forscher gezielt dem Verdacht nach, dass ein erhöhter Abbau der roten Blutkörperchen die Grundlage der Weltraumanämie bildet. Wie sie erklären, ist im menschlichen Körper natürlicherweise ständig ein enormer Umsatz an diesen Blutzellen im Gange: Von den insgesamt bis zu 30 Billionen Erythrozyten des Körpers werden jede Sekunde etwa zwei Millionen zerstört – entsprechende Mengen werden deshalb im Knochenmark nachgebildet. Wie viele rote Blutkörperchen bei den Astronauten im All abgebaut werden, untersuchten die Wissenschaftler anhand des Nachweises von Kohlenmonoxid in deren Atemluft. Wie sie erklären, entsteht jedes Mal ein Molekül dieses Gases, wenn ein Häm zerstört wird. Dabei handelt es sich um die Verbindung, die den Blutkörperchen ihre Farbe verleiht und an ihrer Fähigkeit zum Sauerstofftransport beteiligt ist. Der Kohlenmonoxid-Gehalt der Atemluft ermöglicht somit Rückschlüsse auf die Abbaurate der Erythrozyten im Körper.

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Erhöhter Verlust

Auf diese Weise konnte das Team nun dokumentieren, dass eine deutlich erhöhte Auflösung von roten Blutkörperchen einsetzt, sobald Astronauten in die Schwerelosigkeit gelangen. Konkret zeigte sich, dass etwa 54 Prozent mehr Erythrozyten zerstört werden als üblich – also rund drei Millionen pro Sekunde. Die Produktionsrate der roten Blutkörperchen haben die Forscher zwar nicht direkt erfasst, doch es scheint klar, dass der Körper der Astronauten die Bildung hochreguliert. Denn andernfalls würden sie an schwerer Anämie leiden und wären im Weltraum mit erheblichen Gesundheitsproblemen konfrontiert, erklären die Wissenschaftler. Allerdings wird der erhöhte Verlust im All offenbar nur in Teilen ausglichen: Bei der Landung waren die Astronauten als klinisch anämisch einzustufen, ging aus den Untersuchungen hervor.

“Glücklicherweise ist die durch den Effekt verursachte geringere Anzahl roter Blutkörperchen im Weltraum kein Problem, wenn der Körper schwerelos ist”, sagt Trudel. „Die Auswirkungen der Anämie machen sich erst bemerkbar, wenn man wieder mit der Schwerkraft zurechtkommen muss. Bei der Landung auf der Erde und möglicherweise auf anderen Planeten oder Monden kann diese Form der Anämie deshalb die Energie, Ausdauer und Kraft beeinträchtigen und somit Missionsziele gefährden“, sagt der Wissenschaftler.

Die weltraumbedingte Anämie ist allerdings reversibel, wie die weiteren Untersuchungen bestätigten: Die Zahl der roten Blutkörperchen normalisierte sich drei bis vier Monate nach der Rückkehr zur Erde allmählich wieder. Doch das lag offenbar nur zum Teil am Rückgang der erhöhten Abbaurate: Ein Jahr nach der Rückkehr der Astronauten zur Erde stellte das Team fest, dass die Zerstörung der roten Blutkörperchen noch immer 30 Prozent über dem Niveau vor dem Flug lag. Was die Ursache des erhöhten Erythrozytenzerfalls ist, bleibt allerdings nach wie vor unklar und sollte nun durch weitere Untersuchungen geklärt werden, betonen die Forscher. Grundlegend zeichnet sich jedoch bereits ab: Astronauten erfahren körperliche Veränderungen, die das System des Ab- und Aufbaus von roten Blutkörperchen noch bis zu einem Jahr nach langen Weltraummissionen prägen, resümiert die Wissenschaftler.

Bedeutung für die Raumfahrt und Medizin

Ihnen zufolge könnten die Ergebnisse damit eine vielschichtige Bedeutung besitzen: Es erscheint jetzt etwa zunehmend wichtig, dass Astronauten oder Weltraumtouristen vor dem Start auf bestehende Probleme untersucht werden, die mit Anämie in Verbindung stehen könnten. Außerdem sollte möglicherweise die Ernährung der Raumfahrer an die erhöhte Produktion roter Blutkörperchen angepasst werden. Vor allem aber stellt sich die Frage, wie lange der Körper die höhere Rate von Zerstörung und Produktion bei den roten Blutkörperchen problemlos mitmachen kann. Dies erscheint besonders wichtig im Hinblick auf geplante Langzeitaufenthalte im All – etwa bei Reisen zum Mars.

Die neuen Erkenntnisse könnten zudem Licht auf die Ursachen von bestimmte Formen der Anämie auf der Erde werfen, heben die Forscher abschließend hervor. Es ist bekannt, dass lange Bettruhe Anämie auslösen kann, was die Fähigkeit von Kranken beeinträchtigt, sich zu erholen und wieder mobil zu werden. Auch in diesem Fall sind die Ursachen bisher unklar. Trudel vermutet, dass dieser Form der Anämie und der Weltraum-Version ähnliche Mechanismen zugrundeliegen könnten. Dieser Spur will das Team nun ebenfalls nachgehen. “Wenn wir genau herausfinden können, was diese Anämien verursacht, dann besteht die Möglichkeit, sie zu behandeln oder zu verhindern – sowohl bei Astronauten als auch bei Patienten auf der Erde”, so Trudel.

Quelle: Tim Peake, Fachartikel: Nature Medicine, doi: 10.1038/s41591-021-01637-7

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