Der Mann aus der osttürkischen Stadt Adana heißt Abdurrahaman Balli und ist 25 Jahre alt. Wir treffen ihn im Garten einer kleinen Moschee am Rande der Stadt. Hier bekommt er jeden Mittag eine warme Mahlzeit. Pünktlich um 14 Uhr ist er da – nachdem er seine tägliche Runde gedreht hat, auf der er um Almosen bettelt.
Abdush, wie ihn seine Familie liebevoll nennt, hat ein seltsames Schicksal: Aufgrund eines Gen-Defekts ist er gezwungen, sich auf allen Vieren fortzubewegen. Ein Schicksal, das er mit weiteren Menschen teilt, etwa den fünf Geschwistern der Familie Ulas, die in einem Dorf bei Iskenderun, rund 200 Kilometer östlich von Adana leben. Sie haben es dank einer BBC-Dokumentation zu weltweiter Berühmtheit gebracht. Denn Wissenschaftler glauben: Diese jungen Menschen bewegen sich wie unsere prähistorischen Vorfahren.
Abdush sitzt auf einem alten, ziemlich ramponierten und mit einem Sonnenschirm ausgestatteten Rollstuhl. Geschoben wird er von Yasin, seinem 26-jährigen Cousin. Die beiden jungen Männer sind geistig behindert, doch Yasin kann problemlos auf zwei Beinen gehen. Während er den Rollstuhl auf dem Gehweg parkt, betritt Abdush den Garten und kommt auf uns zu. Er bewegt sich gleichmäßig, aber mühsam, wie ein Mensch, der sein eigenes Gewicht gerade noch tragen kann. „Die Geschwister der Familie Ulas sind flinker, weil sie auf dem Land wohnen – sie sind schlanker und immer in Bewegung”, kommentiert unser wissenschaftlicher Begleiter Üner Tan. Der Professor für Neurophysiologie, der an der Universität Çukurova in Adana lehrt, schreibt sich die Entdeckung der „Vierfüßer” auf die Fahnen.
Abgesehen von der mangelnden Geschicklichkeit bewegt sich Abdush auf dieselbe unglaubliche Weise fort wie seine berühmten Leidensgenossen: Gerader Rücken, zurückgeschobener Kopf, den Blick nach vorn. Mit den Handflächen und den ganzen Fußsohlen berührt er den Untergrund, beugt Knie und Ellenbogen, um Beine und Arme voran zu bringen. Die Gelenke des jeweiligen Armes oder Beines mit Bodenkontakt sind durchgedrückt. Für jeden von uns, der versuchen würde, sich auf diese Weise fortzubewegen, wäre das eine schmerzhafte Angelegenheit.
„Ein Fall von rückläufiger Evolution”, meint Tan. Er ist überzeugt, dass eine einzige genetische Mutation hier Jahrtausende von menschlicher Evolution zunichte gemacht hat. Stefan Mundlos, der an der Charité und am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin forscht und mit seinem Team federführend an der genetischen Untersuchung der Ulas-Geschwister beteiligt war, stehen angesichts dieser Behauptung die Haare zu Berge. „Das ist wissenschaftlich absolut nicht tragbar!”, sagt der Genetiker und betont mit Nachdruck: „Evolution läuft nicht rückwärts, und es ist keineswegs vorstellbar, dass wir uns auf die Stufe unserer prähistorischen Vorfahren zurück entwickeln.” Die vielfältigen genetischen Prozesse, die sich im Lauf der Entwicklung von unseren frühen Vorfahren zum modernen Menschen, dem Homo sapiens sapiens, summiert haben, seien viel zu komplex, um sie mit einer einzigen Mutation zunichte zu machen. Selbst eine Anhäufung genetischer Veränderungen könne das Rad der Evolution nicht zurückdrehen.
Trotzdem sieht auch Mundlos in Abdush und den Ulas-Geschwister weit mehr als Menschen mit einer außergewöhnlichen geistigen und körperlichen Behinderung: Bei der seltsamen Fortbewegungsart auf allen Vieren handele es sich um einen Atavismus. „Durch ein defektes Gen oder eine gestörte Gen-Regulation kann es passieren, dass Eigenschaften wieder auftreten, die in einer früheren Phase der Evolution vorhanden waren, im Laufe der weiteren Entwicklung aber verschwunden sind”, erklärt der Genetiker. Prominente Beispiele für Atavismen beim Menschen sind überzählige Brustwarzen, extreme Körperbehaarung oder ein kleiner Schwanz am Steiß. Auch Pferde, die – wie ihre Vorfahren – anstelle eines Hufs drei Zehen besitzen, oder Kakteen, die vereinzelt normale Blätter statt Dornen ausbilden, sind bekannt. Genauso ist es denkbar, dass – in Einzelfällen – eine typisch menschliche Fähigkeit wie der aufrechte Gang verloren geht. Und dass dieser Verlust die Betroffenen zwingt, sich auf allen Vieren fortzubewegen, eben so wie unsere ausgestorbenen Vorgänger.
Über die Mechanismen, die solche ursprünglichen Merkmale plötzlich wieder zum Vorschein kommen lassen, ist wenig bekannt. Sicher ist nur: Sie weisen darauf hin, dass wir die Spuren unserer Entwicklung in uns tragen. Gene, die nicht mehr benötigt werden, löscht die Evolution keineswegs völlig aus. Vielmehr bleibt die Information über Tausende von Jahren in der DNA erhalten. Wie ein dickes Geschichtsbuch tragen wir die Chronik unserer Spezies mit uns herum – verschlüsselt im Erbgut jeder einzelnen Körperzelle.
Dieses Geschichtsbuch zu lesen, ist Aufgabe der Evolutionsgenetiker. Was sie daraus längst erfahren haben: Unser Erbgut ist nicht annähernd so „menschlich”, wie wir gerne glauben wollen. „Genetisch betrachtet haben wir viel mit anderen Lebewesen gemeinsam”, erklärt Hans Lehrach, Leiter der Abteilung Wirbeltiergenetik am Berliner Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik. „Selbst in so einfachen Organismen wie Hefepilzen finden wir Gene, die den unseren verblüffend ähnlich sind.” Der Grund: Was sich einmal als sinnvoll bewährt hat, wird beibehalten – über alle Entwicklungsstufen hinweg.
Horst Hameister und seine Arbeitsgruppe in der Abteilung Humangenetik des Ulmer Universitätsklinikums haben das Erbgut von Mensch und Schimpanse miteinander verglichen. Mit dem Resultat: In der Zusammensetzung des genetischen Textes unterscheidet sich unser Erbgut von dem des Schimpansen gerade mal um 1,23 Prozent – zum Gorilla sind es 1,6 und zum Orang-Utan 3,1 Prozent Unterschied. Mehr noch: Von unseren rund 24 500 Genen, die Baupläne für Eiweißbausteine tragen, konnten Wissenschaftler nur gerade mal 50 im Schimpansengenom nicht ausfindig machen. Zum Vergleich: Bei Mensch und Hund gibt es nach derzeitigem Stand der Wissens zwischen 75 und 80 Prozent Übereinstimmung.
In Spekulationen über Ursache und Bedeutung dieses Unterschieds lässt sich Hameister lieber nicht verwickeln – zumal er zu bedenken gibt, dass das Erbgut des Menschenaffen noch nicht vollständig entschlüsselt ist und sich eine gewisse Fehlerquote daher nicht ausschließen lässt. Fest steht: Die 50 andersartigen Gene entscheiden nicht über „Mensch oder Affe”. Denn der DNA-Text verkörpert nur die genetische Grundausstattung eines Organismus. Damit sich seine typischen Eigenschaften ausprägen können, ist vor allem die Feinabstimmung von Bedeutung, also wann und in welchem Ausmaß bestimmte Gene aktiviert oder stillgelegt werden – eine der wichtigen Erkenntnisse aus dem Humangenomprojekt (HUGO), der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts.
Hinweise auf die Arbeit der Evolution finden sich im DNA-Geschichtsbuch des Menschen – durch die so genannten Pseudo-Gene. Sie gleichen „richtigen” Genen fast bis ins letzte Detail, können aber aufgrund winziger Mutationen nicht als Proteinbauplan dienen. Pseudo-Gene sind inaktiv. Evolutionsgenetiker interpretieren sie als eine Art Fußabdruck der Entwicklung. Hinter ihnen könnten alte, stillgelegte Gene stecken, die der moderne Mensch nicht mehr benötigt. Ein drastisches Beispiel: Von ursprünglich knapp 1000 Riech-Genen sind bei uns rund 60 Prozent inaktiv. Sie wurden nicht mehr gebraucht, weil wir uns auf andere Sinne konzentriert haben.
„Pseudo-Gene zeigen auch einen Weg, wie neue Erbinformation entstehen kann”, sagt Hameister und ergänzt: „Die Evolution denkt sich ja nicht wirklich etwas Neues aus, sonder spielt mit vorhandenen Motiven.” Typisches Beispiel: Immer wieder werden bei der Herstellung von Spermien und Eizellen durch Fehler in der Zellmaschinerie Gene verdoppelt. Die Kopie ist nicht lebensnotwendig – da das Original die Arbeit erledigt –, es kann sich also in den folgenden Generationen durch Mutationen weiterentwickeln. „Diese Veränderungen sind rein zufällig und enden oft in einer evolutionären Sackgasse, einem funktionslosen Pseudo-Gen”, erklärt der Humangenetiker. „Doch manchmal resultiert daraus ein neues Gen, das ein Lebewesen und seine Nachkommen um neue Eigenschaften bereichert.”
Es wäre durchaus denkbar, dass im Zuge eines solchen Prozesses irgendwann auch jenes Gen entstanden ist, das nun bei Abdush und den Ulas-Geschwistern seine Funktion eingebüßt hat. „ Wahrscheinlich trägt es maßgeblich dazu bei, die Nervenbahnen in unserem Gehirn so zu verschalten, dass das Gehen auf zwei Beinen überhaupt möglich ist”, glaubt Mundlos. Selbstverständlich kann man nicht erwarten, dass eine einzelne Erbanlage alleine über eine physiologisch derart komplizierte Angelegenheit entscheidet. Aber vermutlich hat es eine wichtige Schlüsselfunktion. Lehrach vergleicht: „Das ist wie bei einem Auto mit defektem Vergaser: Es fährt nicht, was die große Bedeutung des Vergasers unterstreicht. Trotzdem ist er natürlich nicht die einzige Komponente, die zum Fahren benötigt wird.”
Mundlos und seine Kollegen arbeiten derzeit mit Hochdruck daran, das defekte Gen im Erbgut von Abdush und den Ulas-Geschwister zu identifizieren. Wenn sie es gefunden haben, müssen DNA-Vergleiche mit Schimpansen und anderen Tieren noch zeigen, ob es wirklich so „original Mensch” ist, dass es für den aufrechten Gang – ein Symbol für die Einzigartigkeit des Homo sapiens – verantwortlich sein kann.
Abdush und seine Schicksalsgenossen wird das kaum interessieren. Sie leben ihr Leben – integriert in ihre orientalischen Großfamilien. Das wird uns klar, als wir das Duo aus Adana nach Hause begleiten. Bei süßem türkischen Schwarztee lernen wir die Frauen der Familie Balli kennen: Abdushs ältere Schwester und ihre Tochter Yüssüm, die Großmutter und die quirlige Ajsa, Yüssüms vierjährige Tochter – vier Generationen von Frauen. Die Männer arbeiten noch in der Fleischerei. Im Zimmer, in dem Abdush, Yasin und die Großmutter schlafen, treffen wir einen weiteren geistig stark behinderten Bruder.
Die Familie ist arm, lebt in beengten Verhältnissen. Trotzdem herrscht eine fröhliche Atmosphäre. Als Üner Tan uns verlässt, bleiben wir ohne Dolmetscher zurück. Jeder spricht seine Sprache – und doch verstehen wir uns. Ajsa wirbelt durch den Raum, posiert vor dem Fotoapparat, spielt mit dem Rollstuhl und lässt sich von Onkel Abdush umarmen. Sie hält nur kurz inne, um die Süßigkeiten zu essen, die wir mitgebracht haben. Yüssüm erkundigt sich nach unseren Familien und drückt uns den jüngsten Spross in den Arm, einen wenige Monate alten Säugling. Wir sollen uns nicht wie Fremde fühlen. Und eingebettet in die orientalische Gastfreundschaft beginnen wir endlich Abdush und seinen Cousin so zu sehen, wie es ihre Familie tut: als Menschen – und nicht als Versuchskaninchen für Genetiker. ■
Die Heidelberger Biologin und Wissenschaftsjournalistin Dr. Stefanie Reinberger recherchierte die wissenschaftlichen Hintergründe von Abdushs Schicksal. Der Mailänder Wissenschaftsjournalist Massimo Murianni hat zusammen mit bdw-Photograf Volker Steger die Familie Balli in der Türkei besucht.
Stefanie Reinberger
Ohne Titel
Auf allen Vieren, die Arme auf den Knöcheln abgestützt wie Menschenaffen – so haben sich unsere Vorfahren angeblich vorwärts bewegt. Doch das ist möglicherweise falsch: Anders als Schimpanse, Gorilla und Co gehen Abdush, und die Ulas-Geschwister auf den Handflächen – die Finger nach oben abgespreizt. Während sich auf den Handflächen dicke Hornhaut gebildet hat, sind die Finger unbelastet geblieben – und beweglich. Die jungen Frauen der Familie Ulas sind in der Lage, äußerst filigrane Handarbeiten anzufertigen. Beim „Knöchelgang” der Menschenaffen lastet hingegen ein Großteil des Gewichts auf den drei mittleren Fingern – eine enorme Belastung für die Gelenke, die dadurch im Laufe des Lebens manchmal an Beweglichkeit einbüßen.
Die Idee, dass sich unsere vierfüßigen Ahnen auf ihre Handballen gestützt haben, ist übrigens nicht neu: 1969 stellte der US-Paläoanthropologe Russel Tuttle ein Modell vor, das diese Gangart favorisiert. Es geht davon aus, dass die frühen Vorfahren des Menschen vorwiegend auf dem Boden lebten und die Fortbewegung auf den Handflächen ein erster Schritt zum aufrechten Gang war – und gleichzeitig der besseren Fingerfertigkeit diente, die für die weitere menschliche Entwicklung entscheidend war.
Auch manche Kleinkinder lassen ahnen, dass die Fortbewegung auf Handflächen und Füßen der menschlichen Spezies nicht fremd ist: Nach einer Studie, die vor über 100 Jahren in den USA durchgeführt wurde, bevorzugten rund fünf Prozent der untersuchten Kleinkinder diese Gangart gegenüber dem üblichen Krabbeln auf Händen und Knien. Diese Besonderheit trat familiär gehäuft auf. Forscher vermuten Gene als Ursache für dieses Verhalten.
Ohne Titel
• In der Türkei und in Südamerika leben Menschen, die vierfüßig laufen.
• Manche Forscher vermuten hier ein Beispiel für rückläufige Evolution.
• Andere sind davon überzeugt, dass der Defekt ein „Atavismus” ist – ein Relikt aus der Vergangenheit des Menschen, ähnlich wie eine angeborene Fellbehaarung.
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Der Vierfüsser-Gang ist Folge einer geistigen Behinderung – zu diesem Schluss kamen Nicolas Humphrey und John Skoyles, Entwicklungspsychologen der London School of Economics, nachdem sie gemeinsam mit dem türkischen Neurophysiologen Üner Tan die Ulas-Geschwister untersucht hatten. Nach Ansicht der Briten geht die Fortbewegungsart auf eine so genannte zerebrale Ataxie zurück, eine krankhafte Rückbildung des Kleinhirns. Mit entsprechender Förderung hätten die Behinderten möglicherweise lernen können, aufrecht zu gehen, meinen die Forscher.
Der Berliner Genetiker Stefan Mundlos sieht das anders – zumal bislang kein Fall von zerebraler Ataxie bekannt sei, der mit dem Gang auf allen Vieren einhergeht. Mundlos ist überzeugt: „Hier haben wir es mit einem bisher unbekannten Defekt auf dem kurzen Arm von Chromosom 17 zu tun.” Dieser Schaden soll die Entwicklung verschiedener Teile des Gehirns stören – und auch die Verschaltungen, die den Gang auf zwei Beinen kontrollieren.
Für eine genetische Ursache spricht, dass mittlerweile noch weitere „Vierfüßer” gefunden wurden: Abdush in Adana sowie zwei Mitglieder einer südamerikanischen Familie. Ob sie allerdings tatsächlich am selben Gen-Defekt leiden wie die türkischen Ulas-Geschwister müssen detaillierte Untersuchungen erst noch zeigen.