Seit 2010 untersucht ein internationales Forschungsteam im Genotype-Tissue Expression (GTEx)-Projekt, wie Gene in verschiedenen Gewebetypen reguliert und abgelesen werden. Nun haben die Wissenschaftler die abschließende Analyse ihrer Daten veröffentlicht. Die Ergebnisse geben unter anderem Aufschluss darüber, wie sich individuelle genetische Unterschiede auf das Risiko für bestimmte Krankheiten auswirken. Sie enthüllen außerdem, wie das Geschlecht die Genregulation in rund 50 verschiedenen Gewebetypen beeinflusst.
Die Gene des Menschen liefern den Bauplan für Proteine, die im Körper viele verschiedene Funktionen erfüllen: Sie transportieren zum Beispiel Stoffwechselprodukte, ermöglichen Zellbewegungen, wehren Infektionen ab, katalysieren biochemische Reaktionen oder geben den Zellen Struktur. Jede einzelne Zelle enthält theoretisch den Bauplan für sämtliche Proteine. Je nachdem, ob sich diese Zelle aber im Gehirn, in der Haut, im Blut oder im Herzmuskel befindet, werden ganz unterschiedliche Proteine benötigt und produziert. Die Gene müssen daher abhängig vom Gewebetyp reguliert werden. Abgelesen werden genau die Gene, deren Produkt im jeweiligen Gewebe in der spezifischen Situation gerade benötigt wird.
Großprojekt als Grundlage für weitere Forschung
Wie sich die Genregulation von Zelle zu Zelle, von Gewebe zu Gewebe und von Mensch zu Mensch unterscheidet, zeigen nun die Daten eines internationalen Forscherteams im GTEx-Projekt. Die Wissenschaftler haben Proben aus rund 50 verschiedenen Gewebetypen analysiert, die von 838 Spendern stammten. Das Resultat ist ein detaillierter Atlas der Genexpression. Daraus geht unter anderem hervor, wie individuelle genetische Unterschiede die Genregulation und damit auch das Risiko für bestimmte Krankheiten beeinflussen. Die einzelnen Ergebnisse präsentieren die Forscher in 15 Veröffentlichungen, unter anderem in der Fachzeitschrift Science.
„Diese Studie ist eine krönende Gemeinschaftsleistung, für die Dutzende Wissenschaftler ihre Expertise vereint haben“, sagt Tuuli Lappalainen von der Columbia University, die federführend an den Forschungen beteiligt war. Die erfassten Daten stellen eine wichtige Ressource für weitere Studien dar. Sie ermöglichen, die Funktion des menschlichen Genoms detaillierter zu verstehen, die genetische Grundlage von Krankheiten genauer zu erforschen, oder neue Angriffsziele für Medikamente zu suchen.
Unterschiede zwischen Männern und Frauen
Ein wichtiges Ergebnis ist, dass unerwartet viele Gene vom Geschlecht beeinflusst werden. Mehr als ein Drittel aller Gene werden in mindestens einem Gewebetyp bei Frauen und Männern unterschiedlich stark abgelesen. Diese Gene sind an vielfältigen biologischen Funktionen beteiligt, so zum Beispiel an der Aufnahme von Medikamenten, dem Fettstoffwechsel und dem Immunsystem. Die einzelnen Effekte sind zwar nur gering – oft kleiner als geschlechtsunabhängige individuelle Variationen – aber überall im Körper zu beobachten.
Ein Teil der Unterschiede ist damit zu erklären, dass bei Frauen das zweite X-Chromosom oft nicht vollständig stillgelegt ist, sondern eine kleine Anzahl der darauf befindlichen Gene ebenfalls abgelesen wird. Tatsächlich zeigten sich die eindeutigsten geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Genen, die sich auf dem X-Chromosom befinden. Allerdings machten diese nur vier Prozent aller vom Geschlecht beeinflussten Gene aus. Der weitaus größere Teil der Gene, die bei Frauen und Männern unterschiedlich stark abgelesen werden, befindet sich auf den anderen Chromosomen. Diese werden den Forschern zufolge mutmaßlich durch Hormone sowie geschlechtsspezifische epigenetische Veränderungen – Anlagerungen am Genom – kontrolliert.
Bedeutung für die personalisierte Medizin
Die Ergebnisse können erklären, warum Frauen und Männer zum Beispiel unterschiedlich anfällig für bestimmte Krankheiten sind und manche Medikamente je nach Geschlecht unterschiedlich gut wirken. Zwar ging man bisher schon davon aus, dass Hormone, Umweltbedingungen, Gesundheitsverhalten und genetische Variationen dabei eine Rolle spielen – die zugrundeliegenden Mechanismen waren jedoch weitgehend unbekannt. „Diese Ergebnisse legen nahe, dass Geschlechtsunterschiede in komplexen menschlichen Merkmalen teilweise auf Geschlechtsunterschiede in der Genregulation zurückzuführen sind“, sagt Barbara Stranger von der University of Chicago. „In Zukunft könnte dieses Wissen zur personalisierten Medizin beitragen, bei der wir das biologische Geschlecht als eine bedeutsame Komponente der individuellen Eigenschaften betrachten.” Auch für zukünftige Forschungen sind die Erkenntnisse relevant: „Unsere Studie enthüllt Verbindungen zwischen Genen und Eigenschaften, die bei geschlechtsunabhängigen Analysen übersehen worden wären“, sagt Strangers Kollegin Meritxell Oliva .
Neben dem Geschlecht ist mutmaßlich auch die Ethnie von Bedeutung, wie die GTEx-Ergebnisse andeuten. Allerdings zeigen sich hier die Grenzen der Studie: Rund 85 Prozent der untersuchten Proben stammten von weißen Amerikanern mit europäischen Wurzeln. Überdies waren zwei Drittel der Gewebespender männlich und über die Hälfte war älter als 50 Jahre. „Angesichts dieser Limitationen ist es noch überraschender – und sollte für Humangenetiker motivierend sein –, wie viele interindividuelle Unterschiede in der Genexpression bei den untersuchten Personen vorliegen“, schreibt Melissa Wilson von der Arizona State University in einem einordnenden Kommentar in Science. „Dies sollte ein Aufruf dazu sein, in zukünftigen Studien mehr menschliche Variation zu repräsentieren.“
Quellen: François Aguet (The Broad Institute of MIT and Harvard, Cambridge) et al., Science, doi: 10.1126/science.aaz1776; Meritxell Oliva (University of Chicago) et al., Science, doi: 10.1126/science.aba3066