Als er den Mann mit dem Messer auf sich zukommen sah, dachte er panisch: „Was machst du jetzt?” Wenn Michael K. heute darüber spricht, flattern sein Herz und seine Hände, als sei es gerade erst passiert. Er war rein zufällig den Weg entlang gekommen, als der psychisch kranke Mann plötzlich auf ihn einstach. Seit einem Jahr schläft Michael K. schlecht. Immer wieder steigen Erinnerungsfetzen des Überfalls in ihm auf: Wie er zu Boden ging und wie er mit Martinshorn zur Notoperation gefahren wurde. Bis zu diesem Tag war Michael K.s Leben in Ordnung. Doch seither ist die Welt für ihn ein unsicherer Ort. Spaziergänge im Grünen erträgt er kaum, vor allem nicht in dem Park, wo es passierte. Bei Zeitungsnachrichten über Gewaltverbrechen blättert er rasch weiter.
Alles zu verdrängen, um sich vor der Wucht der Gefühle zu schützen, gehört ebenso zur Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) wie überschießende Gefühle. 2,3 Prozent der Erwachsenen in Deutschland leiden laut einer repräsentativen Studie des Traumaforschers Andreas Maercker unter den Folgen von Gewalttaten, Unfällen, Katastrophen oder sexuellem Missbrauch. Menschen, die in der Kindheit Opfer ihrer Eltern waren, trifft es härter als Unfallopfer. Denn Gewalt durch eine vertraute Person ist gravierender. „Vertrauensbruch, Verrat, Schuld und Scham sind schwerwiegende Trauma-Faktoren”, weiß Maercker.
STÄNDIG IN ALARMBEREITSCHAFT
Zu Hause bei seiner Frau und den Kindern reagiert Michael K. jetzt oft gereizt. „Ein traumatisierter Mensch ist ständig in Alarmbereitschaft”, erklärt Martin Sack, leitender Oberarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München. Michael K. gerät schon in Panik, wenn ihm jemand auf die Schulter tippt. Die Messerschnitte sind längst verheilt, doch Narben der Erinnerung sind geblieben. „Man weiß aus israelischen und US-Studien, dass die Lebenserwartung traumatisierter Menschen geringer ist. 40 Prozent der PTBS-Betroffenen erkranken zusätzlich an einer Depression und 60 Prozent an einer Sucht, wie Studien mit Kriegsveteranen, Überlebenden von Umweltkatastrophen und Langzeitstudien mit PTBS-Betroffenen zeigen. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit, dass Ehen von PTBS-Betroffenen scheitern, um 50 Prozent erhöht, stellte Andreas Maercker fest.
„PTBS kann durch Psychotherapie zwar kuriert werden, doch viele Patienten bekommen nicht die beste Behandlung”, bedauert er. „Etwa ein Drittel der Therapeuten ist altersbedingt nicht auf dem neuesten Stand. Ein weiteres Drittel will dem Patienten und sich selbst den Schmerz ersparen und arbeitet nur stabilisierend, ohne das Trauma anzugehen. Nur ein Drittel wendet Verfahren auf wissenschaftlicher Basis an, etwa eine kognitive Verhaltenstherapie”, schätzt der Forscher.
Bereits in den 1980er-Jahren fand die amerikanisch-israelische Verhaltenstherapeutin Edna Foa heraus, dass sich PTBS-Symptome bessern, wenn die Erinnerungen richtig verarbeitet werden und das beängstigende Ereignis mit neuen Informationen verknüpft wird. Dazu kommen jetzt neue Impulse aus der Stress- und Hirnforschung. Eine Stressreaktion kann bei PTBS schon durch kleine Reize ausgelöst werden, etwa den Geruch eines Rasierwassers, das an den Peiniger erinnert. Egal, ob der Betroffene dann tatsächlich in einer gefährlichen Situation ist oder einen „Flashback” hat: Im Gehirn kommt eine biochemische Maschinerie in Gang. Der Atem wird schneller, der Puls geht hoch, das Herz rast – der Körper bereitet sich auf eine Kampf- oder Flucht-Reaktion vor.
DURCHLÖCHERTES GEDÄCHTNIS
Die Prozesse im Gehirn behindern das Gedächtnis. Dauerstress durchlöchert gleichsam die Erinnerungen. „Wichtige Informationen werden nicht mehr im Gedächtnis integriert”, erklärt der Bielefelder Hirnforscher Hans Markowitsch. Es kommt zu einer Blockade, einer sogenannten Dissoziation. Das ist ein seelischer Schutzmechanismus, der den Schmerz zwar verdrängt, auf die Dauer aber schädlich ist. Aus Tierversuchen weiß man, dass Stresshormone im Gehirn vor allem dort andocken, wo sich viele Rezeptoren an den Nervenzellen befinden: in den Bereichen der Amygdala, des Hippocampus und des mittleren Stirnhirns. Das sind Hirnstrukturen, die an der Verarbeitung von Erinnerungen beteiligt sind. Während in der Amygdala Reize aus der Umwelt emotional bewertet werden, ist der Hippocampus am Gedächtnis von Faktenwissen beteiligt. Amygdala und Hippocampus sind über ein Nervenfaserbündel miteinander verbunden und wirken so im Zusammenspiel von Gefühlen und Rationalität. „Normalerweise können wir einschätzen, ob Furcht in einer bestimmten Situation berechtigt ist. Bei PTBS ist diese Verbindung blockiert”, erklärt Markowitsch. Die Folge: „Es kommt zu einem Überschwang an Gefühlen, etwa übergroßer Angst, oder zu einer Überbetonung des Verstandes – dann werden schreckliche Geschehnisse eiskalt geschildert.”
Neue Studien mit bildgebenden Verfahren zeigen, dass im Gehirn von Kindern und Erwachsenen, die extremem Stress ausgesetzt waren, das verbindende Faserbündel zwischen Amygdala und Hippocampus – der Fasciculus uncinatus – verändert ist. Zum Teil sind die Fortsätze der Nervenzellen, die Axone, nicht ausreichend mit der Isoliermembran Myelin beschichtet. Im Normalfall trägt die Lipidsubstanz zu einer schnelleren Weiterleitung der Nervenimpulse bei. Außerdem gibt es verkürzte und auch brüchige Fasern.
ALS Stünde man NEBEN SICH
Rajkumar Munian Govindan vom Children’s Hospital of Michigan beobachtete das kürzlich bei 17 Kindern, die ihre ersten Lebensjahre in osteuropäischen Waisenhäusern verbracht hatten, wo sie unter Vernachlässigung, sogenannter Deprivation, litten. Veränderungen an den Nervenfasern fanden letztes Jahr auch Forscher der Psychiatrie der University von Michigan bei 30 Erwachsenen mit Generalisierter Sozialer Angststörung. Dass ein solcher Befund auch bei PTBS-Patienten vorliege, sei derzeit auf Kongressen zu hören, sagt Markowitsch. Er ist davon überzeugt, dass es bei ihnen zu einer fehlerhaften Verarbeitung im autobiografischen Gedächtnis kommt. Das sei der Grund, warum sich die Betroffenen oft so fühlen, als stünden sie neben sich.
Der PTBS-Forscher Douglas J. Bremner von der Emory University in Atlanta und Bernet M. Elzinga von der niederländischen Universität Leiden gehen davon aus, dass ein entgleister Stresshormonspiegel – insbesondere des Kortisols – die Erinnerung quasi in Bruchstücke zerlegt. Das heißt: Informationen im Hippocampus werden eher isoliert gespeichert und sprachliche Erinnerungen – ein wichtiger Faktor der Traumaverarbeitung – unterdrückt. Teile des traumatischen Geschehens können aufgrund der Fragmentierung schwer zugänglich sein. Bremner stellte zudem fest, dass Kriegsveteranen mit PTBS einen verkleinerten Hippocampus haben. Einen ähnlichen Befund erbrachte eine Studie mit Erwachsenen, die in der Kindheit missbraucht wurden. Allerdings: Im Nachhinein lässt sich nicht feststellen, ob der Hirnbereich schon von Geburt an kleiner war, oder ob es erst durch den Stress zu einem Neuronensterben kam.
Schon länger wissen Psychologen: Wenn die Patienten einen besseren Zugang zu ihren Erinnerungen bekommen, schwinden die PTBS-Symptome. Hier ist in letzter Zeit eine Methode ins Blickfeld der Therapeuten gerückt, die fast zu simpel klingt, um wahr zu sein: Während einer Psychotherapiesitzung werden Phasen eingebaut, in denen der Patient Augenbewegungen nach rechts und links ausführt. Die Technik heißt „Eye Movement Desensitization and Reprocessing”, kurz EMDR, was so viel bedeutet wie „ Desensibilisierung und Neuverarbeitung mit Augenbewegungen”. Während sich der Patient an die belastende Situation erinnert, wird er angehalten, 20 bis 40 Augenbewegungen auszuführen. Sobald Veränderungen der Gedanken oder Gefühle einsetzen, gibt der Therapeut die Instruktion, die Aufmerksamkeit auf das Neue zu richten und leitet die nächsten Augenbewegungen ein. Das wird fortgesetzt, bis die subjektive Belastung vermindert ist. Seit 2008 ist die EMDR-Technik von den Krankenkassen als psychotherapeutische Methode anerkannt und wird seither auch in Deutschland immer mehr eingesetzt. Dazu tragen Studien bei, die EMDR mit anderen Methoden verglichen haben und deren Wirksamkeit bestätigten. Der Vorteil von EMDR: Die Methode ist effektiver als nicht-traumafokussierte Verfahren, bei denen der Therapeut wartet, bis der Patient von alleine seine schlimmen Erinnerungen thematisiert. „EMDR kombiniert konfrontierende und stabilisierende Elemente. Die Symptome der Traumafolgen werden bearbeitet und nicht das gesamte Trauma”, erklärt Sack.
Entdeckt wurde EMDR 1986 von der US-Psychologin Francine Shapiro – per Zufall. Eines Tages kamen ihr bei einem Spaziergang unangenehme Gedanken. Als sie daraufhin ihre Augen hin- und herbewegte, fühlte sie sich besser. Seit ihrer Krebsdiagnose zehn Jahre zuvor hatte sich die Psychologin mit Verfahren beschäftigt, die quälende Erinnerungen lindern, und sich als „lebendiges Labor” selbst beobachtet. Als sie sich nun nach den Augenbewegungen an ihre negativen Gedanken erinnerte, waren diese nicht mehr so belastend wie zuvor. Nach vielen Tests entwickelte Shapiro dann ein mehrstufiges Behandlungskonzept, das heute weltweit angewendet wird.
Folgen Sie meiner Hand!
Als Martin Sack erstmals von EMDR hörte, griff er sich an den Kopf. Doch nachdem er mehrere Sitzungen erlebt hatte, war er davon überzeugt. Da etliche Studien die Wirksamkeit der Methode bezeugen, schlug Martin Sack dem traumatisierten Michael K. vor, EMDR auszuprobieren. Hier ein kurzer Auszug aus dem Protokoll einer Sitzung:
Sack: „Wie spüren Sie die Belastung?”
Michael K: „Wenn ich daran denke, tut mir die Schulter weh. Ich habe das Gefühl, ich habe etwas falsch gemacht, weil ich nicht davongerannt bin.”
Sack: „Erinnern Sie sich daran, wie der Mann mit dem Messer auf Sie zukommt. Denken Sie an den Satz: Ich habe nicht auf mein Gefühl gehört und bin nicht davongerannt. Denken Sie an die Angst, an den körperlichen Schmerz. Jetzt folgen Sie meiner Hand.”
(Sack bewegt seine Hand vor den Augen des Patienten hin und her wie ein Scheibenwischer. Michael K. folgt der Hand mit seinen Augen.)
Sack: „Ja, gut. Jetzt tief Luft holen. Taucht etwas verstärkt auf?”
Michael K: „Ja, das ist ganz komisch, aber ich habe genau das Gefühl, das ich hatte, als ich das Messer gesehen habe.”
Sack: „Bleiben Sie dran.” (Bewegungen)
Michael K: (folgt mit den Augen ein paar Sekunden). „Ich spüre, wie er mich am Oberarm festhält. Dieser Druck. Es wird ganz warm. Dann der zweite Stich. Der war schlimmer als der erste.”
Bereits nach drei Sitzungen sind die belastenden Gefühle fast völlig verschwunden. Michael K. hat den Eindruck, wieder der Alte zu sein – und das auf schonende Weise. Sack betont: „Der Patient wird nicht mit Erinnerungen überflutet, sondern dosiert behandelt. Je nachdem, wie belastend es für ihn ist, kann man die Gesprächsebenen wechseln.” Wird der Patient etwa von Gefühlen der Hilflosigkeit überwältigt, wechselt Martin Sack in einen Modus, der die Stärken des Patienten gezielt zur Sprache bringt. Doch es gibt durchaus Skeptiker, die bezweifeln, dass die Augenbewegungen bei der Behandlung traumatischer Erinnerungen hilfreich sind. Deshalb führt Martin Sack mit Fördergeldern der Deutschen Forschungsgemeinschaft derzeit eine Vergleichsstudie mit drei Gruppen von jeweils 64 PTBS-Patienten durch. Die erste Gruppe erhält EMDR, die zweite eine Behandlung, bei der die Patienten nur auf eine unbewegte Hand sehen, und die dritte Gruppe erinnert sich, ohne auf eine Hand zu blicken. Ergebnisse liegen laut Sack noch nicht vor.
ENTSPANNUNG UND ABLENKUNG
Ungeklärt ist bislang, welcher biologische Mechanismus EMDR zugrunde liegen könnte. Eine Hypothese besagt, dass der Erfolg auf die bilaterale Stimulierung der beiden Gehirnhälften zurückgeht. Martin Sack glaubt vielmehr, dass die Augenbewegungen entspannend wirken und kurz ablenken, weil neue Reize empfangen werden. Das könnte Stress abbauen. Messen lässt sich das während der EMDR-Sitzung anhand der sinkenden Herzfrequenz. Möglicherweise ist das auch der Grund, warum sich die Patienten so besser an eine belastende Situation erinnern können.
„Ein Allheilmittel ist EMDR nicht”, betont Sack. „Die eindringlichen Gedanken verschwinden und die Überreizung, aber nicht alle Probleme.” Wenn etwa Patienten, die als Kinder vernachlässigt wurden, heute schlecht mit sich umgingen, dann müsse dies eingehender behandelt werden. Doch Michael K. konnte rasch geholfen werden, weil er zuvor ein gesunder Mensch war. Er berichtet von einem eindrucksvollen Erlebnis: Der Metzger, bei dem er einkaufte, hatte plötzlich hinter der Theke mit seinem Messer herumgefuchtelt und ihn gefragt, ob so die Tatwaffe ausgesehen hätte. Michael K. sagt, er sei ganz ruhig geblieben, „ so, als ob es mich nicht mehr betrifft”. ■
SUSANNE RYTINA haben ihre Recherchen davon überzeugt, dass Menschen durchaus in der Lage sind, traumatische Erinnerungen zu überwinden.
von Susanne Rytina
Wichtig ist, zuzuhören
Wie haben Sie den Tag erlebt?
Ich war zwar vorbereitet, doch auf die-ses Ausmaß war kaum einer von uns 60 Notfallseelsorgern gefasst. Für Pfarrer ist es aber auf jeden Fall einfacher, mit dem Tod umzugehen, weil wir häufiger damit konfrontiert werden und darüber reflektieren.
Ist es besonders schwer, traumatisierten Kindern zu helfen?
Sicher ist es schwierig, wenn Hunderte Schüler am Rand ihrer psychischen Kräfte sind. Wichtig ist, zuzuhören und vorsichtig ein Gespräch zu lenken. Ich musste auch Fragen offen lassen wie: Warum habe ich überlebt und mein Freund nicht? Warum habe ich mein Kind heute Morgen nicht richtig verabschiedet?
Wie grenzen Sie sich ab, um nicht selbst von Gefühlen überwältigt zu werden?
Obwohl man ahnt, wie man selbst als Betroffener reagieren würde, versucht man in der professionellen Rolle zu bleiben. Da nützt eine gute Ausbildung. Es ist aber immer eine Gratwanderung, die Nähe zu den Betroffenen, die für das Vertrauen nötig ist, mit der professionellen Distanz zu verbinden.
Waren Sie an der Grenze ihrer Kräfte?
Ja, das ging schnell. Ich bin dann eine Stunde auf den Markt gegangen, um einzukaufen und Distanz zu gewinnen. Ich bin aus Selbstschutz geflüchtet, war mir über den Verdrängungsmechanismus aber bewusst. Auch die anschließenden Beerdigungen waren ungeheuer schwierig und eine Art Dauerstress. Eine solche direkte Gewalt gegen Personen ist etwas anderes als etwa der Tod durch einen Verkehrsunfall.
LESEN
Andreas Maercker (Hrsg.) Posttraumatische Belastungs- störungen Springer, Heidelberg 2009, € 59,95
Martin Sack Schonende Traumatherapie Ressourcenorientierte Behandlung von Traumafolgestörungen Schattauer, Stuttgart 2010, € 29,95
INTERNET
Institut von Dr. Arne Hofmann, einem EMDR-Pionier in Deutschland, mit Therapeuten-Liste: www.emdr-institut.de
Literatur zu EMDR in der Francine Shapiro Library: emdr.nku.edu/emdr.php
Leitlinie PTBS mit Behandlungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik: www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/051–010.htm
KOMPAKT
· Bei Posttraumatischen Belastungsstörungen ist häufig die Stressverarbeitung im Gehirn gestört.
· Der Dauerstress behindert unter anderem das Gedächtnis.
· Helfen kann eine schonende und einfache Therapie, unterstützt von gezielten Augenbewegungen.