die Krankengeschichte von Wolfgang Amadeus Mozart weckt Mitleid. Bereits sein Vater Leopold Mozart schwadronierte in Briefen ausführlich über den beklagenswerten Gesundheitszustand des Sohnes: Das Wunderkind musste immer wieder schwere Krankheiten durchmachen, darunter Gelenkrheumatismus, Pocken und Angina. Im Winter 1765 litt der Neunjährige sogar an lebensgefährlichem Bauchtyphus – wahrscheinlich eine Folge der schlechten hygienischen Verhältnisse, die damals in den Gasthöfen herrschten, in denen die Familie auf ihren vielen Konzertreisen durch Europa abstieg.
Seit dem Tod des Komponisten spekulieren Biografen, Medizinhistoriker und Musikwissenschaftler gleichermaßen, woran er am 5.12.1791 im jungen Alter von 35 Jahren starb. Die Malaisen, die dem Musikgenie angedichtet wurden, summieren sich zu 140 Todesursachen und 85 weiteren Krankheiten, davon 27 psychischen. In Fleißarbeit hat der Mediziner und ehemalige Harvard-Forscher Lucien Karhausen diese Liste der Leiden zusammengetragen. Sein Kollege Goran Ivkic, Neurologe an der Universität Zagreb, kommt gar auf 150 Diagnosen für den prominenten Patienten. Auffällig ist die Häufung angeblich psychischer Defekte: Psychosen, Depressionen, das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom, das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, Epilepsie und diverse Persönlichkeitsstörungen.
MIAUEN UND PURZELBÄUME SCHLAGEN
Medizinhistoriker haben in den zahlreichen Briefen Mozarts, die an seinen Vater oder seine Cousine Maria Anna Thekla adressiert sind (bekannt geworden als die „Bäsle-Briefe”), nach Belegen für Derartiges gesucht. Zudem gibt es Berichte von Biografen, Mozarts Leibarzt Thomas Franz Closset und anderen Zeitgenossen. Zu ihnen gehört die Schriftstellerin Karoline Pichler. Sie beschrieb 1843 in der „Allgemeinen Theaterzeitung” einen Jahrzehnte zurückliegenden geselligen Abend in ihrem Haus, bei dem Mozart zugegen war und sich seltsam benahm: „Auf einmal aber ward ihm das Ding zuwider, er fuhr auf und begann in seiner närrischen Laune, wie er es öfters machte, über Tisch und Sessel zu springen, wie eine Katze zu miauen, und wie ein ausgelassener Junge Purzelbäume zu schlagen.”
MIT Fäkal-Wörtern gespickt
Solche Berichte sowie die Bäsle-Briefe, die mit aberwitzigen und derben Sprachkompositionen sowie mit Fäkal-Ausdrücken gespickt sind, gaben immer wieder Anlass dazu, Mozart als psychisch krank einzustufen. So meint auch Werner Felber, emeritierter Psychiatrie-Professor der Technischen Universität Dresden: „Der Verdacht liegt nahe, dass Mozart am Tourette-Syndrom litt.” Bei dieser psychischen Erkrankung zeigen die Betroffenen körperliche „Tics”: unwillkürliche, meist kurze, teilweise sehr heftige Bewegungen, die immer wieder in gleicher Weise auftreten. Dazu kommen Sprachtics, beispielsweise das zwanghafte Wiederholen von Sätzen und Wörtern, bisweilen auch Beschimpfungen und Obszönitäten.
„Die sehr freie und fäkale Sprache in den Bäsle-Briefen ist auffällig und geht über das hinaus, was damals an derbem Sprachstil üblich war”, ist Felber überzeugt. Zudem habe Mozart weitere merkwürdige Eigenheiten gezeigt, die auf das Tourette-Syndrom hindeuten: Der geniale Musiker spielte immer mit irgendwelchen Gegenständen und musste alles anfassen. Zudem liebte er Zahlenspiele und schrieb ellenlange Briefe in Reimen.
Der Mediziner Karhausen hält diese Diagnose für falsch. „Die Tics beim Tourette-Syndrom sind ungewollt, Mozart aber spielte absichtlich mit Wörtern, Geräuschen und Zahlen.” Tics kämen zudem nicht in schriftlicher Form vor. Auch der Internist und Medizinhistoriker Anton Neumayr, der an der Universität Wien forschte, glaubt, dass Mozart nicht unter psychischen Krankheiten litt. Vielmehr habe der Komponist etwa in den Bäsle-Briefen mit den Worten ähnlich improvisiert wie mit Noten: „Dies war die Fortsetzung der ununterbrochenen kompositorischen Tätigkeit seines Gehirns”, schreibt Neumayr in seinem Buch „Berühmte Komponisten im Spiegel der Medizin”. Auch das Spielen mit Gegenständen sei kein Tic gewesen, sondern vielmehr eine Folge des lebhaften Temperaments und des starken Bewegungsdrangs des Komponisten.
Sicher ist, dass Mozart oft seine körper- lichen Grenzen überschritt. Er war ein Arbeitstier und komponierte unablässig bei Tag und Nacht. Einige Psychologen sehen darin manisch-depressive Züge. Auch die Niedergeschlagenheit und die Todesängste Mozarts nach dem Tod seines Vaters 1787 deuteten einige Historiker als klinische Depression mit paranoiden Wahnideen. „Das ist absurd”, kontert Anton Neumayr. „Schmerz und Trauer sind doch normal, wenn man seinen besten Freund und engsten Berater verloren hat.” Zudem hätten andere typische Symptome einer Depression gefehlt – wie Appetitlosigkeit, Schlafstörungen und Antriebslosigkeit.
Außerdem, munkeln manche Mozart- Experten, habe der Komponist an einer Epilepsie gelitten. Seine manisch-depressiven Züge sowie die häufigen Erschöpfungszustände und starken Kopfschmerzen, von denen berichtet wird, würden darauf hinweisen. Der Neurologe Ivkic hält diese Diagnose ebenfalls für eine unzulässige Vereinfachung: „Die hygienischen Bedingungen und Mozarts Arbeitswut könnten dazu beigetragen haben, dass er oft körperlich erschöpft war.”
So wird der Neid erträglich
Überzeugende Beweise fehlen auch für ein Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts- Syndrom oder Persönlichkeitsstörungen, die Mozart zugeschrieben werden, meint Lucien Karhausen. Er bietet eine andere Erklärung für die vielen medizinischen Diagnosen an: „Das sind Versuche, einen herausragenden Komponisten von seinem Sockel zu heben. Indem wir auf seine Persönlichkeit und seine Arbeit herabsehen, wird der Neid auf das Genie erträglich.” ■
von Kathrin Burger
ÜBER 140 Mögliche Tode
Hätten alle Mozart-Forscher mit ihrer Diagnose recht, wäre der Komponist mindestens 140 Tode gestorben – unter anderem an einer Streptokokken-Infektion, an Masern, Typhus, Tuberkulose, Trichinose (Fadenwürmer), Vergiftung durch Mykotoxine (damals oft im Brot), Hirnblutung infolge einer Schädelfraktur, Herzmuskelentzündung, Vergiftung durch bleihaltigen Wein, Urämie (tödliche Harnvergiftung durch Nierenversagen) und rheumatisch-entzündliches Fieber. Beliebt sind auch etliche Mord-Varianten. So kam in den 1930er-Jahren die Hypothese auf, Mozart sei von Juden, Freimaurern oder Jesuiten ermordet worden. Manche Forscher sind auch überzeugt, dass ihn sein Kontrahent Antonio Salieri vergiftet hat.
An was Mozart tatsächlich starb, wird man wohl nie in Erfahrung bringen. Sein Leichnam wurde in einem anonymen Grab mit vier oder fünf anderen beigesetzt, was eine Identifizierung nahezu unmöglich macht. Zwar bewahrt das Mozarteum in Wien einen Schädel auf, der angeblich von dem berühmten Musiker stammt. Doch ein Abgleich der DNA mit Mozarts Verwandten 2006 führte zu keinem eindeutigen Ergebnis.