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Lungenbewohner mit weitreichender Bedeutung

Mikrobielle Flora der Lunge

Lungenbewohner mit weitreichender Bedeutung
Auch in unserem Atmungsorgan leben bakterielle Untermieter. © Mohammed Haneefa Nizamudeen/iStock

Ähnlich wie im Darm leben auch in der Lunge friedliche Bakterien, die in komplexer Weise die Gesundheit beeinflussen: Das Lungenmikrobiom beeinflusst Immunreaktionen im zentralen Nervensystem, wie sie bei Multipler Sklerose auftreten, zeigen Untersuchungen im Tiermodell. Die Ergebnisse lassen hoffen, dass es einmal möglich sein könnte, Erkrankungen des Zentralnervensystems durch Beeinflussungen der Lunge-Hirn-Achse zu behandeln, sagen die Wissenschaftler.

Wir sind niemals wirklich allein – unser Körper ist der Lebensraum einer bunten Gesellschaft aus Myriaden von Mikroorganismen. Der Erforschung dieser winzigen Untermieter wurde in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit geschenkt. Es hat sich dabei immer deutlicher abgezeichnet, was für eine vielschichtige Rolle das Mikrobiom für die menschliche Gesundheit spielt. Neben vielen anderen Effekten hat die Zusammensetzung der Bakteriengemeinschaften auch einen Einfluss auf das Nervensystem – es wurden Verbindungen zu neurodegenerativen Erkrankungen und psychischen Problemen aufgezeigt. Bisher stand dabei allerdings der größte mikrobielle Lebensraum des Körpers im Fokus – der Darm. Das Team unter der Leitung der Universitätsmedizin Göttingen hat sich nun hingegen der Erforschung der Bedeutung der mikrobiellen Bewohner der Lunge gewidmet. Im Vergleich zum Darm ist zwar unser Atmungsorgan nur dünn besiedelt, doch auch dort existiert eine Gemeinschaft aus harmlosen Bakterienarten.

Gibt es auch eine Lunge-Hirn-Achse?

Eine der Grundlagen der Studie bildeten Hinweise darauf, dass Beeinträchtigungen der Lunge mit der Entwicklung von neurologischen Effekten verbunden sein können. So steigern Infektionen der Lunge oder Rauchen das Risiko, an Multipler Sklerose (MS) zu erkranken. Das Besondere ist dabei, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt. Das Immunsystem und letztlich sogenannte T-Zellen, greifen bei MS fälschlicherweise das eigene Hirngewebe an und verursachen dort Schäden, die zu neurologischen Ausfällen führen. Warum und wie ausgerechnet die Lunge bei der Steuerung von Autoimmunprozessen des Gehirns beteiligt sein könnte, war bislang unklar.

Um eine mögliche Rolle der Lungenflora auszuloten, haben die Forscher Untersuchungen an Ratten durchgeführt, die in der Multiple-Sklerose-Forschung als Modelle für die Erkrankung beim Menschen genutzt werden: Durch bestimmte Verfahren entwickeln sie eine entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, wie sie auch MS-Kranke aufweisen. Diese Modelltiere behandelten die Wissenschaftler nun mit niedrigen Dosen des Antibiotikums Neomycin, das direkt in die Lunge verabreicht wurde. Wie anschließende Analysen zeigten, hatte dies wie gewünscht nicht zu einer Eliminierung, sondern nur zu einer leichten Veränderung der Zusammensetzung der Bakteriengemeinschaft in der Lunge geführt.

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Effekte aufs Gehirn

Die Überraschung lieferten dann die Untersuchungen des „MS-Krankheitszustands“ der Modelltiere: Die Behandlung hatte zu einer Verringerung der Symptome geführt – es zeichneten sich weniger Entzündungsreaktionen im Zentralen Nervensystem ab. Offenbar hatte die Veränderung der Lungenflora zu diesem Effekt geführt – doch wie? Dieser Frage gingen die Forscher anschließend detektivisch nach: Schrittweise untersuchten sie durch eine Reihe von Verfahren, an welchem Ort dieser Einfluss wirksam ist, welche Zellen dort betroffen sind und welche bakteriellen Signale an der Regulation des Immuneffekts beteiligt sein könnten.

So stellten sie fest: Die Antibiotika-vermittelte Manipulation des Lungenmikrobioms hatte sich auf die sogenannten Mikroglia im Zentralnervensystem ausgewirkt. Sie sind als die „Immunzellen des Gehirns“ bekannt. Es handelt sich um feinverästelte Zellen, die Schädigungen oder Gefährdungen durch Infektionserreger wahrnehmen können und daraufhin Alarm schlagen, um Immunzellen herbeizurufen. Wie aus den Untersuchungen hervorging, veränderten die Mikroglia nach der Manipulation des Lungenmikrobioms ihre Aktivität und zeigten sogar mikroskopisch sichtbare Auffälligkeiten. Die Zellen reagierten außerdem weniger stark auf entzündliche Signale, was eine verminderte Rekrutierung von Immunzellen in das entzündete Gehirngewebe der Versuchstiere zur Folge hatte. Dadurch ließen sich die Symptomlinderungen erklären, sagen die Forscher.

Zellwandbestandteile beeinflussen Immunüberwachung im Gehirn

Anschließend machten sie sich auf die Suche nach den bakteriellen Signalen, die eine derartige „Mikroglia-Beschwichtigung“ auslösen konnten. Den entscheidenden Hinweis lieferten dabei Einblicke darin, zugunsten welcher Bakterienarten sich die Mikrobengesellschaft nach der Antibiotikabehandlung entwickelt hatte. Die Analysen ergaben, dass sich Spezies im Lungengewebe ausgebreitet hatten, die besondere Zellwandbestandteile besitzen – Lipopolysaccharide. Dass tatsächlich diese Substanzen für die Wirkung ausschlaggebend sind, bestätigten dann weitere Experimente: Eine künstlich erhöhte Menge von Lipopolysaccharid in der Lunge bewirkte ebenfalls den lindernden Effekt bei den „MS-Modell-Ratten“. Eine gezielte Beseitigung der Stoffe verursachte dagegen eine Verstärkung der Symptome der Autoimmunerkrankung.

Die Studienergebnisse weisen damit nun auf eine bisher unbekannte funktionelle Verbindung zwischen Lunge und Gehirn hin, resümieren die Wissenschaftler. Es ist zwar zu vermuten, dass die bei Ratten festgestellten Verknüpfungen grundsätzlich auch beim Menschen auftreten. Inwieweit das aber tatsächlich zutrifft, müssen erst zusätzliche Untersuchungen zeigen und auch die weitere Bedeutung gilt es auszuloten, schreiben Aubrey Schonhoff und Sarkis Mazmanian vom California Institute of Technology in Pasadena in einem begleitenden Kommentar zur Studie: „Die vielversprechenden Ergebnisse sollten nun bestätigt und erweitert werden. Dabei stellt sich etwa die Frage, ob die Interaktionen zwischen dem Lungenmikrobiom und den Mikroglia auch andere Erkrankungen beeinflussen, die mit Entzündungen des Zentralnervensystems einhergehen“.

Was dies betrifft, wirf Seniorautor Alexander Flügel von der Universitätsmedizin Göttingen abschließend einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft: „Möglicherweise lässt sich die Lunge-Hirn-Achse sogar therapeutisch nutzen. So könnte eine gezielte Gabe von Probiotika oder bestimmten Antibiotika vielleicht dazu dienen, die Immunreaktionen des Gehirns zu beeinflussen und damit nicht nur Multiple Sklerose, sondern generell Erkrankungen unseres Zentralnervensystems, bei denen die Immunaktivität der Mikroglia eine Rolle spielt, zu behandeln“, so Flügel.

Quelle: Universitätsmedizin Göttingen, Fachartikel: Nature, doi: 10.1038/s41586-022-04427-4

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