Lesenlernen ist eine echte mentale Herausforderung. Die meisten Menschen benötigen Monate, manchmal Jahre des Übens, bis sie Buchstaben erkennen und flüssig lesen können. Doch was passiert bei diesem Prozess eigentlich im Gehirn? Einer umstrittenen Hypothese zufolge geht das Lesenlernen zulasten anderer Hirnfunktionen – die neue Kompetenz nimmt demnach Kapazitäten für wichtige Fähigkeiten wie der Verarbeitung von Gesichtern weg. Eine Studie enthüllt nun jedoch, dass das offenbar nur ein Mythos ist: Das Lesenlernen macht unser Gehirn zwar empfindlicher für Schriftzeichen. Die Reaktion auf andere komplexe Objekte wird dadurch allerdings nicht eingeschränkt. Im Gegenteil: Lesen und schreiben zu können scheint sich sogar positiv auf das gesamte visuelle System auszuwirken.
Lesen ist heute eine unserer wichtigsten Alltagsfähigkeiten. Doch aus evolutionärer Sicht ist diese Kulturtechnik noch sehr jung: Die Erfindung der ersten Schriften liegt gerade einmal wenige tausend Jahre zurück. Aus diesem Grund hat unser Gehirn noch keine Zeit gehabt, ein eigenes Lesezentrum zu entwickeln. Wenn wir lesen lernen, muss es andere Hirnareale zu diesem Zweck umfunktionieren. Bereiche, die eigentlich für die Erkennung komplexer Objekte wie Gesichter oder Häuser zuständig sind, beginnen dann, empfindlich auf Buchstaben zu reagieren. Aber mit welchen Folgen? Einige Forscher glauben, dass der Prozess des Lesenlernens ein Tauschgeschäft ist: Die Spezialisierung auf Schriftzeichen geht demnach zulasten anderer Fähigkeiten wie der Verarbeitung von Gesichtern. Schließlich werden die evolutionsgeschichtlich dafür vorgesehenen Bereiche nun zum Lesen genutzt.
Schädliche Konkurrenz?
Was an dieser umstrittenen Hypothese dran ist, haben nun Alexis Hervais-Adelman vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen und seine Kollegen untersucht. Für ihre Studie brachten sie 29 erwachsenen Analphabeten aus einer ländlichen Gegend in Nordindien sechs Monate lang Grundlagen im Lesen und Schreiben der Devanagari-Schrift bei. Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) beobachteten sie, was sich dabei im Gehirn veränderte – insbesondere interessierte sie, wie das Denkorgan auf Schriftzeichen und nicht-orthografische visuelle Reize wie Bilder von Gesichtern reagierte. Dieselben Untersuchungen führten die Wissenschaftler mit einer Gruppe von nicht geschulten Analphabeten und einer Gruppe von Menschen durch, die seit Jahren lesen und schreiben konnten.
Die Auswertungen bestätigten, dass vor allem Bereiche im linken Temporallappen wie der Gyrus fusiformis als Folge der Alphabetisierung empfindlicher für orthografische Reize werden und sich bestimmte funktionelle Netzwerke innerhalb des Denkorgans verändern. Allerdings: Dies geht mitnichten zulasten anderer Funktionen. So zeigten lesefähige Probanden im Test eine erhöhte Hirnaktivität als Reaktion auf Buchstaben. Doch auf Gesichter, Häuser und andere komplexe Objekte sprang ihr Gehirn ebenso stark an. Auch die Menge an Hirngewebe, das auf nicht mit Buchstaben und Schrift in Zusammenhang stehende Reize reagierte, verkleinerte sich durch die Lesekompetenz nicht. “Beim Lesen- und Schreibenlernen werden bereits existierende Mechanismen zur Repräsentation von Objekten recycelt, aber offenbar ohne zerstörerischen Wettbewerb”, erklären Hervais-Adelman und seine Kollegen.
“Generell positiver Einfluss”
Tatsächlich fanden die Wissenschaftler sogar Hinweise auf nützliche Synergieeffekte: So beobachteten sie, dass Personen mit Lese- und Schreibkompetenz auf Buchstaben und Gesichter erstaunlich ähnlich reagierten. Die Aktivitätsmuster im Gehirn glichen sich in beiden Fällen. Beim Erkennen von Buchstaben und komplexen Objekten werden demnach offenbar ähnliche Hirnnetze aktiviert. Der Einfluss des Lesenlernens auf diese Netzwerke scheint damit im Laufe der Zeit auch die Reaktion auf visuelle Reize insgesamt verbessern zu können, wie das Forscherteam berichtet. Denn ihre Experimente offenbarten: Einige Hirnareale wie der Gyrus fusiformis oder der Occipitallappen zeigten bei Lesern nicht nur eine verstärkte Reaktion auf Schriftzeichen. Abhängig vom Lesegrad erhöhte sich auch die Aktivität bei visuellen Reizen aus anderen Kategorien.
“Lesenlernen ist gut für uns. Denn es schärft weit mehr als Hirnreaktionen auf Buchstaben und Sätze und hat einen generell positiven Einfluss auf unser visuelles System”, sagt Mitautor Falk Huettig. Damit scheint klar: Dass das Lesenlernen negative Effekte auf die Verarbeitung anderer visueller Reize hat, ist ein Mythos. Wie genau sich das Gehirn bei diesem Prozess umstrukturiert und welche Unterschiede es dabei zum Beispiel zwischen Kindern und Erwachsenen gibt, sollen in Zukunft weitere Untersuchungen zeigen.
Quelle: Alexis Hervais-Adelman (Max-Planck-Institut für Psycholinguistik, Nijmegen) et al., Science Advances, doi: 10.1126/sciadv.aax0262