Sechs an einer Hand: Manche Menschen werden mit mehr als den üblichen fünf Fingern geboren – Polydaktylie heißt die wissenschaftliche Bezeichnung dieses Phänomens. Wissenschaftler sind nun erstmals gezielt der Frage nachgegangen, was die zusätzlichen Finger leisten können: Sind sie eher problematisch oder sogar vorteilhaft? Außerdem haben sie untersucht, wie das Gehirn mit „Nummer Sechs“ umgeht. Das Fazit lautet: Ein zusätzlicher Finger kann die Bewegungsfähigkeiten der Hand durchaus erweitern und das Gehirn ist damit auch nicht überfordert. Diese Ergebnisse könnten möglicherweise der Entwicklung von zusätzlichen künstlichen Gliedmaßen dienen, sagen die Forscher.
Das Phänomen tritt häufiger auf als man meinen könnte: 0,2 Prozent der Menschen haben mehr als fünf Finger an der Hand. Sogar in der Bibel wird die Polydaktylie schon erwähnt: Das Buch Samuel berichtet über einen Mann mit Sechsfinger-Händen. Auch die Füße können betroffen sein – bei zusätzlichen Zehen spricht man ebenfalls von Polydaktylie. In manchen Fällen haben die zusätzlichen Glieder eine Form oder Position, die eindeutig behindernd wirkt. Doch bei einer bestimmten Form der Polydaktylie ist das nicht der Fall: Dabei sitzt zwischen Daumen und Zeigefinger ein zusätzlicher, voll ausgebildeten Finger.
Sechsfinger-Hände im Blick
Im Rahmen einer Fallstudie haben die Forscher um Carsten Mehring von der Universität Freiburg nun zwei Probanden untersucht, die diese Form der Polydaktylie aufweisen. „Wir wollten herausfinden, ob die motorischen Fähigkeiten dieser Personen über diejenigen von Menschen mit fünf Fingern hinausgehen und wie das Gehirn in der Lage ist, diese zusätzlichen Freiheitsgrade zu kontrollieren“, sagt Mehring. Dazu untersuchten die
Wissenschaftler die anatomischen Merkmale der Sechsfinger-Hände und erfassten die Leistung der Probanden bei mehreren Bewegungsexperimenten. Außerdem blickten sie ihnen dabei mittels funktionaler Magnetresonanztomographie (fMRT) ins Gehirn.
Die Untersuchungen dokumentierten eine erstaunliche Leistungsfähigkeit: Die beiden Probanden bewegen ihre zusätzlichen Finger unabhängig mithilfe von eigenen Muskeln und Nerven. „Unsere Probanden können ihre sechsten Finger frei einsetzen, ähnlich wie einen weiteren Daumen – und das allein oder zusammen mit den anderen fünf Fingern. Dadurch können sie ihre Hand außergewöhnlich vielseitig und geschickt nutzen“, berichtet Mehring. „Zum Beispiel konnten sie in unseren Versuchen eine Bewegungsaufgabe mit nur einer Hand ausführen, für die andere Menschen normalerweise zwei Hände benötigen.“
Überraschend leistungsfähig
Was die Untersuchung der Hirnaktivität beim Einsatz der sechsten Finger betrifft, zeigte sich: Die erweiterten motorischen Fähigkeiten werden durch spezialisierte Areale in den sensomotorischen Hirnregionen ermöglicht. Die Forscher konnten spezifische neuronale Aktivitäten nachweisen, die den sechsten Finger steuern. „Obwohl das Gehirn diesen höheren Freiheitsgrad kontrollieren muss, haben wir keine Nachteile festgestellt im Vergleich zu Menschen mit fünf Fingern“, sagt Co-Autor Etienne Burdet vom Imperial College London. Es zeichnet sich ihm zufolge somit ab, dass das Gehirn genug Kapazität für die Steuerung besitzt, ohne an anderer Stelle etwas opfern zu müssen.
Den Forschern zufolge könnten diese Ergebnisse der Entwicklung von zusätzlichen künstlichen Gliedmaßen zur Erweiterung von Bewegungsfähigkeiten dienen. Gemeint sind Konzepte, bei denen Menschen etwa einen künstlichen Zusatz-Arm steuern, um komplexe Tätigkeiten ohne Assistenz auszuführen. Menschen mit Polydaktylie eröffnen in diesem Zusammenhang die Chance, die neuronalen Potenziale des Menschen auszuloten, um solche Systeme zu bedienen, so die Wissenschaftler. Dabei geben sie allerdings einen einschränkenden Aspekt zu bedenken: Menschen mit Polydaktylie trainieren ihr Bewegungssystem von Geburt an.
Quelle: Universität Freiburg, Nature Communications, doi: 10.1038/s41467-019-10306-w
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