Anfang 2003 herrschte wahre Goldgräberstimmung. Forscher hatten eine Art natürliche Gentherapie – die RNA-Interferenz – ausgetüftelt. Sie schien das ideale Werkzeug zu sein, um Krebs zu heilen und Viren zu töten. Schnell begannen Wissenschaftler Patente zu beantragen – es lockten Ruhm und das große Geld. Doch das Leben war komplizierter als die Theorie. Was im Zellversuch so gut gelang, klappte bei Labormäusen überhaupt nicht. Deren Körper zerstörte die Arzneimittel, bevor die ihr Einsatzorgan erreicht hatten.
Ausgelöst hatte den Boom eine Entdeckung des Gen-Forschers Tom Tuschl am Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie in Göttingen (bild der wissenschaft 06/2003, „Lebensrettender Schredder”). Tuschl hatte es geschafft, in Säugetierzellen gezielt die Wirkung krank machender Gene abzuschalten, indem er ihre Befehlskette lahm legte. In allen Lebewesen regieren die Gene, indem sie ihre Befehle – auch die krank machenden – mithilfe der Botenmoleküle RNA an die Zellmaschinerie weitergeben. Diese Botschaften können auch Baupläne für Viren sein oder für Signalstoffe, die zu Wucherungen führen. Tuschls Tricks: Er fütterte kranke Zellen mit kurzen Bruchstücken eben jener RNA von verhängnisvollen Genen. Der Clou dabei: Die Bruchstücke waren mit molekularen Doppelgängern zu einem RNA-Doppelstrang verschmolzen. Diese unnatürliche Kombination rief Wächter-Moleküle der Zellen auf den Plan, die alles zerstörten, was der doppelten RNA ähnelte – also auch die schädliche RNA.
Mit dieser Entdeckung hätte eigentlich alles klar sein müssen. Weltweit machten sich Wissenschaftler daran, RNA-Stückchen zu konstruieren, die krank machende Gene bei Erbleiden und in Tumoren lahm legen oder Viren ausmerzen sollten. Doch der erhoffte Erfolg blieb aus. Wurden die Moleküle in die Blutbahn injiziert, so zerstörte der Körper sie sofort. „Und selbst wenn man die RNA durch chemische Modifikationen stabilisiert, wird sie ruck zuck mit dem Urin wieder ausgeschieden”, bringt Tuschl, der mittlerweile am Rockefeller Institute in New York forscht, das Problem auf den Punkt.
Um dennoch ans Ziel zu gelangen, probierten Forscher auch rabiate Methoden wie die Hochdruck-Injektion. Sie jagten Mäusen innerhalb von nur zehn Sekunden die für die kleinen Tiere riesige Menge von einem Milliliter RNA-Lösung in die Schwanzvene. Die Wirkmoleküle schossen durch das Adergeflecht und sammelten sich in gut durchbluteten Organen wie Leber, Niere oder Lunge an. Mit Erfolg: Judy Lieberman von der Harvard Medical School in Boston, Massachusetts, unterdrückte auf diese Weise die Bildung eines Moleküls namens Fas, das Zellen in den Selbstmord treibt. So gelang es ihr, bei Mäusen mit Autoimmunhepatitis das für die Krankheit typische Leber zerstörende Zellsterben zu verhindern.
Die RNA-Therapie funktioniert also auch im Tierorganismus, nicht nur in Zellen. Aber für die Praxis eignet sich diese Methode nicht. Die Nager bekamen binnen weniger Sekunden rund ein Fünftel ihres eigenen Blutvolumens zugeführt – beim Menschen entspräche das einem Liter. Der Druck, der dabei entsteht, stellt eine hohe Belastung für den Organismus dar und kann zu Herzversagen führen – für Menschen ein untragbares Risiko.
Eleganter ist da der Weg, den die Kulmbacher Biotech-Firma Alnylam Europe mit ihrer Tochterfirma Alnylam Pharmaceuticals in Boston, Massachusetts, beschreitet. Den Kulmbacher Forschern ist es gelungen, bei Mäusen ein für die Bildung des schädlichen LDL-Cholesterins zuständiges Fettstoffwechsel-Gen namens ApoB zu blockieren. Dadurch sank, wie erhofft, die LDL-Konzentration im Blut. Und das, obwohl man die hemmenden Schnipsel mit ganz normalem, gut verträglichem Druck in die Venen der Tiere gespritzt hatte.
„Wir haben uns zunächst überlegt, wie wir der RNA Eigenschaften verleihen können, die auch andere Medikamente brauchen”, erklärt Forschungschef Hans-Peter Vornlocher. Das heißt, sie muss stabil sein, längere Zeit im Körper verbleiben und außerdem leicht in die Zellen gelangen. Der Trick der Kulmbacher Wissenschaftler: Sie verpassten ihrer RNA eine Cholesteringruppe. Die hat selbst nichts mit der Stoffwechseltherapie zu tun, sondern verhindert, dass der Wirkstoff schnell über die Niere entsorgt wird: „Das Cholesterin heftet sich an Plasmaproteine, so dass große Komplexe entstehen, die nicht durch das Sieb in der Niere passen und deshalb viel länger im Körper zirkulieren”, sagt Vornlocher. „Außerdem haben wir damit ein Trojanisches Pferd gebastelt, das eine sehr effektive Aufnahme der RNA in die Zellen erlaubt.” Gemeinsam mit dem Cholesterin-Anhängsel wird das Wirkmolekül fettliebend, und kann so viel leichter die lipidhaltige Zellmembran passieren.
Die Rechnung der Kulmbacher ging auf und die RNA-Schnipsel sammelten sich in gut durchblutetem Gewebe an. Mehr noch: In der Leber und im mittleren Dünndarm, wo das ApoB-Gen normalerweise aktiv ist, wurden nur noch 20 bis 40 Prozent des zugehörigen Proteins hergestellt. Diese Drosselung reichte aus, um den Pegel des LDL-Cholesterins im Blut deutlich zu senken. Das ApoB-Experiment diente den Kulmbachern zunächst als Beweis dafür, dass das Verfahren funktioniert. Trotzdem betont Vornlocher, dass dies der weltweit erste Ansatz für eine systemische RNA-Interferenz-Therapie sei, der sich für Menschen eignet. Lieberman bestätigt: „Die Methode ist sehr viel versprechend – obwohl natürlich noch einige Fragen offen bleiben.”
Zu ihnen gehört, wie sich die zurzeit für die Praxis noch zu großen RNA-Dosen reduzieren lassen. Vornlochers Empfehlung: Die RNA nicht in die Blutgefäße injizieren und damit im ganzen Körper verteilen. Er hält es für sinnvoller, die Mini-Heilstoffe direkt an ihren Einsatzort zu transportieren, etwa mithilfe von Spritzen oder Cremes.
Dass dies möglich ist, haben Lieberman und ihre Kollegin Premlata Shankar gezeigt. Sie entdeckten, dass Schleimhaut RNA-Schnipsel gut aufnehmen kann. Den Amerikanerinnen gelang es, die Bildung des CCR5-Rezeptors in der Vagina von Mäusen zu unterbinden. Die Idee dahinter: Der Rezeptor dient dem Aids-Virus HIV als Türklinke, die ihm den Weg in die Zelle öffnet. „Durch die Beseitigung des CCR5-Rezeptors wollen wir einen lokalen Schutz vor einer sexuellen HIV-Übertragung bewirken”, sagt Liebermann. „Wir wollen einen RNA-Cocktail entwickeln, um das Virus von mehreren Seiten zu attackieren.” Noch weiß niemand, ob die Rechnung aufgeht, denn Mäuse lassen sich nicht mit HIV infizieren. Fest steht aber, dass die hemmende RNA an ihrem Bestimmungsort angekommen ist. Und das könnte helfen, beim Menschen einen Schutz vor sexuell übertragbaren Erregern aufzubauen – auch vor Papillomviren, die bei manchen Frauen Gebärmutterhalskrebs verursachen.
Beim Auge sind die Forscher schon weiter. Sie wollen per RNA-Interferenz die altersbedingte „feuchte” Makuladegeneration behandeln, die häufigste Ursache für Erblindung bei über 55-Jährigen in der westlichen Welt. Schuld am Verlust der Sehfähigkeit sind Gefäßwucherungen unter der Netzhaut, von denen insbesondere die Makula – der „Gelbe Fleck” – betroffen ist, die Stelle des schärfsten Sehens. Bislang stoppen Mediziner die fortschreitende Zerstörung mit einer Phototherapie. Doch der Laser, der die schädlichen Äderchen zerstört, hinterlässt unweigerlich Spuren im Gewebe. Schlimmer noch: Der rabiate Eingriff scheint die entzündlichen Prozesse, die zur Makuladegeneration führen, zu fördern.
Die neuen Therapieansätze mit RNA sollen das Übel an der Wurzel packen. Direkt in den Glaskörper des Auges gespritzt, greifen die Wirkmoleküle in die Produktion eines Wachstumsfaktors namens VEGF ein, der für die Ausbildung der zerstörerischen Äderchen verantwortlich ist. Samuel Reich und Michael Tolentino aus Philadelphia gelang es so, die krankhafte Aderbildung in Mäuseaugen auf ein Viertel zu reduzieren. Nach diesem Erfolg starteten Forscher jetzt erstmals eine RNA-Interferenz-Therapie beim Menschen.
Auf dem Weg dorthin liefern sich mehrere Biotech-Firmen ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Acuity Pharmaceuticals aus Philadelphia begann bereits im Oktober 2004 eine klinische Studie. Sirna Therapeutics aus Boulder, Colorado, zog Ende November nach. Und Alnylam will noch 2005 damit beginnen, die hemmenden Moleküle bei einer kleinen Gruppe Freiwilliger zu testen. ■
Stefanie Reinberger