Auch die Schlagkraft von „Bösewichten“ lässt sich nutzen: Ein berüchtigter Krankheitserreger des Zuckerrohrs könnte zur Quelle einer neuen Klasse dringend benötigter Antibiotika avancieren, berichten Forscher. Sie haben den raffinierten Wirkmechanismus entschlüsselt, durch den der „Kampfstoff“ des Pflanzenpathogens für uns gefährliche Bakterien abtöten kann. Dies könnte nun den Weg zur Entwicklung von Antibiotika ebnen, gegen die etwa „Krankenhauskeime“ kaum Resistenzen entwickeln, sagen die Forscher.
Man spricht von der „Antibiotika-Krise“: Die Wunderwaffen der Medizin verlieren zunehmend ihre Schlagkraft – einige bakterielle Krankheitserreger haben Widerstandskraft gegen die gängigen Wirkstoffe entwickelt. Wenn man sich mit solch einem resistenten Keim infiziert hat, droht Lebensgefahr, denn die medizinischen Möglichkeiten nähern sich dann dem Niveau von vor mehr als 100 Jahren. Mittlerweile fallen schon tausende Menschen jedes Jahr den hartnäckigen Erregern zum Opfer. Es besteht somit dringender Bedarf an alternativen Wirkstoffen zu den bisherigen Antibiotika.
Bereits seit einiger Zeit ist dabei ein Wirkstoff in den Fokus der Forschung gerückt, der aus einer überraschend wirkenden Quelle stammt: Er wird von dem pflanzlichen Krankheitserreger Xanthomonas albilineans gebildet, der bei Zuckerohr die sogenannte Blattstreifigkeit verursacht, die im Anbau zu großen Schäden führt. Man geht davon aus, dass der Erreger das sogenannte Albicidin verwendet, um die Pflanzen zu schädigen und so seine Ausbreitung zu ermöglichen. Neben seiner Funktion bei der Entwicklung der Blattstreifigkeit stellten Forscher bei Untersuchungen des Wirkstoffs auch eine starke antibakterielle Wirkung fest: Lösungen, die Albicidin enthielten, töteten viele Keime ab, die beim Menschen Krankheiten hervorrufen können.
Wie wirkt das Albicidin?
Es zeichnete sich bereits ab, dass die Wirkung auf der Störung eines Enzyms beruht, das nur bei Pflanzen und Bakterien vorkommt. Mensch und Tier könnten somit von der Behandlung mit der Substanz verschont bleiben. Die Nutzung des Albicidins für die Entwicklung von Antibiotika wurde allerdings bisher durch die Unklarheit darüber behindert, auf welche Weise der Wirkstoff in das bakterielle Enzymsystem eingreift. Wie das internationale Team mit Beteiligung von Forschern der TU Berlin nun berichtet, haben Fortschritte in der Technik der Kryoelektronenmikroskopie die entscheidenden Einblicke ermöglicht. Durch die Untersuchung von tiefgefrorenen Protein-DNA-Komplexen konnten die Wissenschaftler detailliert sichtbar machen, auf welchen raffinierten Mechanismen die Albicidin-Wirkung beruht.
Wie die Forscher erklären, richtet sich der Wirkstoff gegen ein Protein, das sowohl in Pflanzen als auch in Bakterien vorkommt und DNA-Gyrase genannt wird. Dieses Enzym bindet an die DNA und verdreht sie – ein lebenswichtiger Prozess, damit die Zellen richtig funktionieren können. Um diese Aufgabe zu erfüllen, muss die Gyrase die DNA-Doppelhelix kurzzeitig durchtrennen. Das ist ein heikler Punkt, denn gebrochene DNA wäre für Zellen tödlich. Normalerweise fügt die Gyrase die beiden DNA-Stücke bei ihrer Arbeit deshalb schnell wieder zusammen. Genau an dieser Stelle greift das Albicidin ein, wie nun aus den eisigen Einsichten in den Mikrokosmos hervorgeht.
Raffinierte Blockade mit Potenzial
Es zeigte sich, dass das Albicidin eine L-Form bildet, die es ihm ermöglicht, sowohl mit der Gyrase als auch mit der DNA auf raffinierte Weise zu interagieren. In diesem Zustand kann sich das Enzym nicht mehr bewegen, um die DNA-Enden zusammenzuführen, erklären die Wissenschaftler. Die Wirkung von Albicidin ist ihnen zufolge somit vergleichbar mit einem sperrigen Element, das zwischen zwei Zahnrädern eingeklemmt wird. „Es war ein großes Privileg zu sehen, wie das Molekül an sein Ziel gebunden ist und wie es funktioniert“, sagt Co-Autor Dmitry Ghilarov von der Jagiellonian Universität in Krakau und dem John Innes Centre in Norwich.
Ein wichtiger Aspekt ist den Forschern zufolge, dass sich der Wirkmechanismus des Albicidins deutlich von dem herkömmlicher Antibiotika unterscheidet. Somit könnten das Molekül und seine Derivate wahrscheinlich gegen viele der derzeitigen antibiotikaresistenten Bakterien wirksam sein. “Außerdem liegt nahe, dass Albicidin es aufgrund der Art der Wechselwirkung für Bakterien schwierig macht, eine Resistenz zu entwickeln”, sagt Ghilarov. “Jetzt, da wir die Struktur verstehen, können wir versuchen, diese Bindungstasche weiter auszunutzen und die Substanz weiter zu modifizieren, um seine Wirksamkeit und die pharmakologischen Eigenschaften zu verbessern”, erklärt Ghilarov.
Auch dabei können die Forscher bereits Erfolge vorweisen: Sie konnten ihre Entdeckungen nutzen, um Varianten des Antibiotikums mit verbesserten Eigenschaften chemisch zu synthetisieren. In ersten Labortests erwiesen sie sich in geringen Konzentrationen als wirksam gegen einige der gefährlichsten bakteriellen Erreger. Das Team hofft, die Forschung nun schon bald bis zu klinischen Versuchen am Menschen vorantreiben zu können. Dies könnte zur Entwicklung einer neuen Klasse von Antibiotika führen, die angesichts der weltweiten Bedrohung durch Antibiotikaresistenzen dringend benötigt werden. “Wir glauben, dass dies einer der aufregendsten neuen Antibiotika-Kandidaten seit vielen Jahren ist”, sagt Ghilarov abschließend.
Quelle: John Innes Centre, TU Berlin, Fachartikel: Nature Catalysis, doi: 10.1038/s41929-022-00904-1