Zurzeit sterben pro Jahr weltweit 14 Millionen Menschen an Krebs. 2030 werden es 22 Millionen sein, prognostiziert der neue Krebsbericht der Weltgesundheitsorganisation WHO. Wo sind da die Fortschritte in der Krebsbehandlung, auf die auch das Deutsche Krebsforschungszentrum DKFZ oft hinweist, Herr Professor Wiestler?
Otmar D. Wiestler: Die Erkrankungshäufigkeit nimmt in der Tat zu. In den Industrieländern liegt das vor allem an der demografischen Entwicklung. Glücklicherweise werden wir immer älter – und Krebs ist eine Alterskrankheit. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in einer ehemals gesunden Zelle zu einer kritischen Zahl von Veränderungen kommt, steigt mit dem Lebensalter. In Entwicklungs- und Schwellenländern nimmt die Krebshäufigkeit überdies durch Risikofaktoren wie Rauchen, falsche Ernährung und Infektionen zu.
Wie sieht es mit den Behandlungserfolgen aus?
In der westlichen Welt hat es erhebliche Fortschritte gegeben. In den 1970er-Jahren überlebten in Deutschland nur 30 Prozent eine Krebsdiagnose. Heute wird jeder Zweite der 500 000 Menschen geheilt, die jährlich neu erkranken. Frauen mit Brustkrebs haben bei uns sogar eine 80-prozentige Heilungschance. Verglichen mit anderen Volkskrankheiten wie Alzheimer, für die es nach wie vor keine Behandlung gibt, ist das eine erfreuliche Perspektive.
Die Behandlungserfolge bei Krebs zeigen sich also vor allem in hochentwickelten Ländern?
Die Therapie von Krebs ist teuer und erfordert ein fortgeschrittenes Gesundheitssystem. Deshalb haben Entwicklungsländer hier einen deutlichen Nachteil. Doch auch für Deutschland gilt: Wenn die Hälfte aller an Krebs Erkrankten stirbt, müssen wir besser werden. Die erheblichen Nebenwirkungen der Behandlung verbreiten ebenfalls noch viel Angst und Schrecken.
Wie viele Arten von Krebs gibt es?
Krebs ist dadurch gekennzeichnet, dass Zellen unkontrolliert zu wuchern beginnen und sich im Körper ausbreiten. Tatsächlich kann jedes Organ und jedes Gewebe Krebs entwickeln. Es gibt damit weit über 100 Krebsarten.
… die sich im Verlauf unterscheiden?
Je intensiver wir Krebs erforschen, desto klarer wird: Die verschiedenen Krebsformen unterscheiden sich oft erheblich in ihrer Ursache, ihrer Entwicklung, in den Erbgutveränderungen und im Verlauf. Mehr noch: Durch die heute möglichen Erbgutanalysen bei Krebs- zellen erkennen wir, dass selbst Patienten, die an der- selben Krebsform erkranken, erhebliche Unterschiede bei den Mutationen im Erbgut aufweisen. Diese Unterschiede sind auch für die variablen Krankheitsverläufe verantwortlich. Konkret heißt das beispielsweise für zwei gleichaltrige Frauen, die hier in Heidelberg leben und gleichzeitig an Brustkrebs erkranken: Beide werden vom gleichen Arzt behandelt – am besten krebsmedizinischen Standort, den es in Europa gibt –, aber eine wird geheilt, die andere erliegt ihrer Krankheit.
Das klingt so, als stünde die Krebsmedizin erst am Anfang.
Nein, das ist sicher nicht der Fall! Obwohl Krebs so komplex ist, gibt es praktisch keine Form mehr, die wir überhaupt nicht verstehen. Wir haben in den letzten 20 Jahren sehr viel über Krebs gelernt. Die Krebsmedizin ist meiner Auffassung nach weiter als viele andere Sparten der Medizin bei chronischen Erkrankungen. Fast die Hälfte aller neuen Medikamente sind Krebsmedikamente. Wir verstehen inzwischen, warum und auf welchen Wegen sich Krebs entwickelt. Das ist die Basis für Therapien, die beim Kern des Problems ansetzen. Deshalb werden aktuell auch so viele neue Behandlungsformen gegen Krebs entwickelt. Sie bauen unmittelbar auf Forschungsergebnissen auf.
Sie leiten das DKFZ seit zehn Jahren. Wie hat sich die Krebsforschung in dieser Zeit verändert?
Eine wesentliche Entwicklung ist die Fokussierung auf menschliches Krebsgewebe und auf Zellen, die daraus isoliert werden. Früher wurde vor allem an Tiermodellen geforscht. Der zweite Trend ist die rasche Umsetzung von Forschungsergebnissen in die klinische Praxis. Schließlich hat es enorme technische Fortschritte gegeben, insbesondere in der Genomforschung.
An einer schnellen Umsetzung der Forschungsergebnisse arbeitete schon Ihr Vorgänger, Nobelpreisträger Harald zur Hausen.
Das ist in der Tat ein langwieriger und auch schwieriger Prozess. Bis vor etwa zwei Jahrzehnten hat sich die Krebsforschung noch überwiegend auf der Ebene der Grundlagenforschung bewegt – weit entfernt von Untersuchungen am Menschen. Ein Grund waren die bescheidenen technischen Möglichkeiten. Ein Beispiel: Heute sequenzieren wir das Erbgut eines Krebspatienten in wenigen Tagen. Vor zehn Jahren wäre das noch völlig undenkbar gewesen. Mit einem Problem kämpft das DKFZ allerdings bis heute: Es hat keine eigene Klinik – anders als unsere US-Kollegen beim MD Anderson Cancer Center in Houston, Texas, und beim Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York oder unsere Partner am Institute Gustave Roussy in Paris.
Ein Geburtsfehler?
Ganz sicher. Wir behelfen uns, indem wir bundesweit mit führenden Universitätskliniken intensiv zusammenarbeiten. Mein Vorgänger Harald zur Hausen hat bereits Mitte der 1990er-Jahre einzelne Abteilungen als Klinische Kooperationseinheiten eingerichtet. Deren Leiter sind Ärzte, die sowohl im DKFZ forschen als auch im Heidelberger Universitätsklinikum Patienten behandeln. Der nächste große Schritt war das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen, das NCT, mit dem wir 2004 starteten und das sehr schnell zu einer Modelleinrichtung in Deutschland wurde.
Welche Aufgaben hat dieses Zentrum für Tumorerkrankungen?
Zum einen soll die Qualität der Krebsmedizin in Deutschland auf das Niveau international führender Einrichtungen gehoben werden. Das geschieht im NCT zum Beispiel dadurch, dass jeder Patient von einem ganzen Expertenteam begutachtet und anschließend nach strengen Standards behandelt wird. Falls die konventionelle Therapie nicht anschlagen sollte, erhält jeder Patient das Angebot, an einer innovativen klinischen Studie teilzunehmen. Zum anderen ist das NCT eine Plattform, um unsere Forschungsergebnisse rasch in die Kliniken zu bringen und die dortigen Erkenntnisse wieder an das DKFZ zurückzuspiegeln. Für die Erfolgsgeschichte des NCT war es entscheidend, dass Forschung und Klinik unter einem Dach sind. Das gewährleistet, dass sich Patienten, Ärzte und DKFZ-Wissenschaftler täglich begegnen und ins Gespräch kommen. Inzwischen behandelt das NCT pro Jahr über 10 000 Patienten. Ab Ende 2015 können wir für jeden Patienten eine komplette Erbgutanalyse seiner Krebszellen erstellen. Das gibt es sonst nirgendwo in Europa.
Mit welchem Mehrwert?
Wir lernen daraus sehr viel über die individuelle Ausprägung von Krebs. Und das ist schließlich der Ausgangspunkt für die personalisierte Therapie, die zukünftig sehr wichtig sein wird.
Warum profitiert im Schnitt nur jeder Fünfzigste der an Krebs neu Erkrankten in Deutschland von den Möglichkeiten des NCT?
In Wirklichkeit profitieren viel mehr Krebspatienten. Inzwischen gibt es in Deutschland mit Unterstützung der Deutschen Krebshilfe elf weitere onkologische Spitzenzentren, die nach dem NCT-Vorbild entstanden sind und nach strengen wissenschaftlichen Maßstäben begutachtet werden. Alle Zentren haben den Auftrag, intensiv mit regionalen Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten zusammenzuarbeiten.
Vor zwei Jahren ging das DKTK an den Start, das Deutsche Konsortium für Translationale Krebsforschung. Was kann es mehr leisten als das NCT?
Beim NCT haben wir alle Vorteile des Heidelberger Standorts genutzt. Doch auch in anderen deutschen Städten gibt es hervorragende Experten. Deshalb kam der Gedanke auf, auch an diesen Standorten Zentren aufzubauen, an denen das DKTK und die Universitätsmedizin vor Ort eng zusammenarbeiten. Sie leisten den direkten Transfer von Forschung ans Krankenbett – das sind gewissermaßen kleinere NCTs, die jetzt in München, Berlin, Frankfurt am Main, Tübingen, Freiburg, Essen und Dresden entstehen.
Der Forschungstransfer ist für Sie ein wesentliches Ziel. Wie steht es um die Grundlagenforschung am DKFZ?
Sie ist der Motor, der alles antreibt. Ohne wichtige Erkenntnisse hätten wir bald nichts mehr in die Klinken zu übertragen. Dabei achten wir mehr als früher auf krankheitsrelevante Aspekte und auf die Patentierbarkeit der gewonnenen Resultate: Wer nicht patentiert, kann den Transfer in die Anwendung fast vergessen, da er kaum Industrie-Partner finden wird.
Welche Therapien werden in Zukunft wichtig sein?
Hoffnungsträger sind zielgerichtet wirkende Substanzen, die bestimmte Signalwege ansteuern, aber keinen Schaden im Gewebe anrichten. Zunehmend in den Vordergrund rückt auch die Immuntherapie. Noch immer ist weitgehend unklar, warum unser Immunsystem Krebszellen, die eindeutig fremde Merkmale tragen, nicht ausschaltet. Durch die Genomsequenzierung können wir Immunreaktionen wesentlich tiefgründiger analysieren als früher. Weiterhin sind wir dabei zu erkennen, wie der immunsuppressive Wall um eingeigelte Krebszellen abgebaut werden könnte. Ganz wichtig wird es auch sein, Patienten mit bisher fast unheilbaren Krebsarten wie Bauchspeicheldrüsenkrebs, dem bösartigen Hirntumor Glioblastom oder Lungentumoren eine deutlich lebensverlängernde Perspektive zu verschaffen.
Wird das in Ihrer aktiven Zeit noch gelingen?
Ich bin zuversichtlich, dass uns das in den nächsten 10 bis 20 Jahren gelingt.
Klagen über eine unzureichende finanzielle Ausstattung im Gesundheitssektor sind an der Tagesordnung. Können wir uns diese neuen Therapien überhaupt leisten?
Ich bin der Auffassung, dass Deutschland ein enorm leistungsfähiges und finanzkräftiges Gesundheitssystem hat. Bei uns bekommt jeder Erkrankte die Behandlung, die er braucht. Die Kosten im Gesundheitssektor steigen zwar, und die Krebsmedizin ist ein Verursacher. Doch einerseits glaube ich, dass das Versichertensystem noch ungenutzte Ressourcen hat. Und andererseits bin ich mir sicher, dass die Menschen hierzulande bereit wären, mehr Mittel für ihre Gesundheitsversorgung aufzubringen, wenn man sie davon überzeugt, dass sie dafür eine erstklassige medizinische Versorgung erhalten.
Trotz aller Fortschritte stirbt etwa die Hälfte der Neuerkrankten an Krebs. Wie leben Sie als Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums mit diesem bedrückenden Wissen?
Wir tun offensichtlich noch nicht genug, um den Krebs zu besiegen. Ich baue darauf, dass die Bilanz in zehn Jahren deutlich besser ist. Die ausgebrochene Krankheit erfolgreicher zu behandeln, ist nur eine der großen Herausforderungen in der Krebsmedizin. Die andere ist, ein besseres öffentliches Bewusstsein zu schaffen. Auch 2014 wird jeder zweite Krebspatient zu spät auf seine Krankheit aufmerksam. So spät, dass auch viele neue Behandlungsmöglichkeiten nicht mehr erfolgversprechend sind. Deshalb brauchen wir neue Wege in der Risikoerfassung bei Gesunden sowie in der Früherkennung und Prävention. Ein Beispiel: Wenn Sie sich im Alter von 50 einer Darmspiegelung unterziehen und keine krankhaften Veränderungen gefunden werden oder potenziell krebsverdächtige Polypen dabei entfernt werden, ist die Gefahr verschwindend gering, in den nächsten 15 Jahren Darmkrebs zu bekommen. Was für eine Möglichkeit, sich vor einer der häufigsten Krebsarten zu schützen! Und doch nehmen weniger als 25 Prozent der über 55-jährigen Deutschen diese Chance wahr. •
Das Gespräch führten Wolfgang Hess und Claudia Christine Wolf