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Heute ruhig, morgen süchtig?

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

Heute ruhig, morgen süchtig?
Forscher warnen vor der Langzeitwirkung des ADHS-Medikaments Ritalin.

Nun setz dich endlich”, schimpft die Mutter. Aber ihr Sohn saust schon wieder durch die Wohnung. „Das Essen wird kalt, setz dich”, wiederholt der Vater gereizt. Der Sohn kommt mit der Xbox in der Hand zurück, wirft sie in eine Ecke und springt dann auf dem Sofa herum.

Szenen wie diese gehören zum Alltag in einer Familie, in der ein Kind an ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) leidet. Es ist viel impulsiver als andere Kinder und kann sich nicht auf eine Sache konzentrieren. Unzählige Ideen schwirren ihm gleichzeitig im Kopf herum.

Die meisten Kinderärzte und Psychiater sind überzeugt, dass hier nur eine Kombination aus Medikamenten und Gesprächstherapie hilft. Sie verschreiben oft das Stimulans Methylphenidat, das unter dem Handelsnamen Ritalin bekannt ist.

Düstere Zukunft

Laut der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) von 2009 bis 2012 wurde bei fünf Prozent der in Deutschland lebenden Kinder ADHS diagnostiziert. Das Robert-Koch-Institut hatte dafür über 12 000 Kinder bis 17 Jahre und deren Eltern befragt. Wird die Störung nicht behandelt, erscheinen die Zukunftsaussichten der Kinder düster: Sie werden später häufiger straffällig, haben einen schlechteren Schulabschluss, finden seltener Arbeit, neigen eher zu Drogenmissbrauch, lassen sich eher scheiden und verdienen 33 Prozent weniger als andere. In den USA ist der Unterschied sogar größer als zwischen Schwarzen und Weißen oder zwischen Frauen und Männern, stellte Jason Fletcher, Sozialwissenschaftler an der Universität von Wisconsin, 2013 fest.

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Medikamentenhersteller und behandelnde Ärzte verheißen, dass sich das ändern lässt, wenn die Kinder behandelt werden. Aber ist das wirklich so? Über 60 Jahre nach der Markteinführung von Methylphenidat beschäftigt Forscher die Langzeitwirkung des Medikaments.

Dass Methylphenidat kurzzeitig positiv wirkt, haben etliche Hundert Studien nachgewiesen, auch wenn die Therapie in der Gesellschaft umstritten ist. Die Mediziner sind sich weitgehend einig, dass der Wirkstoff bei etwa 70 Prozent der Kinder mit ADHS die Symptome lindern kann. Sie werden aufmerksamer und können sich besser konzentrieren. Kritiker sagen: Die Kinder „ funktionieren”.

Wenn sie im Unterricht mehr bei der Sache sind, sollten sie am Ende auch besser abschneiden, könnte man meinen. Davon ging auch die Gesundheitswissenschaftlerin Janet Currie von der US-amerikanischen Princeton Universität aus, als sie Daten der Kinder in Quebec mit denen anderer kanadischer Kinder verglich. 1997 hatte die Provinz im Alleingang eine „ Medikamentenversicherung” eingeführt. In der Folge stiegen die Verschreibungszahlen für Methylphenidat auf das Doppelte des übrigen Landes, weil die Eltern die Tabletten nicht mehr selbst zahlen mussten. Den in Quebec lebenden Kindern mit ADHS müsste es eigentlich auch Jahre später besser gehen als anderen, mutmaßte Currie 2014 im Journal of Health Economics.

Schlechter dran trotz Arznei

Sie verfolgte die Einträge zu 8643 Kindern, bis diese 16 Jahre alt waren. Das Ergebnis ihrer akribischen Arbeit überraschte sie: Unter den behandelten Kindern waren nicht weniger Schulabbrecher als in den anderen Provinzen. Auch gingen sie nicht eher auf eine weiterführende Schule. Im Gegenteil – Currie fand nachteilige Effekte: Die Mädchen waren im Schnitt unglücklicher und litten häufiger unter Depressionen, eine bekannte Nebenwirkung von Ritalin. Ihre Beziehung zu den Eltern war eher zerrüttet und ihre Leistungen in Mathematik schlechter. Und die schwer von ADHS betroffenen Jungen mussten trotz Therapie besonders oft eine Klasse wiederholen und waren häufiger mit ihren Eltern zerstritten.

Wie ist das möglich? „Die Kinder könnten durch die Diagnose massiv stigmatisiert und benachteiligt worden sein”, vermutet Currie. Möglicherweise haben sie die Tabletten auch wiederholt abgesetzt, und vielleicht war es auch problematisch, dass oft eine begleitende Therapie fehlte, meint die Forscherin.

Ein anderes Ergebnis erbrachte die bekannteste Langzeitstudie – die MTA-Studie des National Institute of Mental Health –, die schon in den 90er-Jahren lief und aus der immer noch neue Daten veröffentlicht werden. MTA steht für „Multimodal Treatment of ADHS”, also eine kombinierte Behandlung der Erkrankung. Das Institut verglich verschiedene Behandlungsansätze miteinander. Als Ritalin allein und zusammen mit einer Gruppentherapie getestet wurde, stellte sich heraus: Alle Kinder schnitten am Ende gleich schlecht ab. Acht Jahre später unterschieden sie sich weder in den Schulnoten noch landete eine Probandengruppe seltener im Gefängnis oder in einer psychiatrischen Klinik. Und sie waren alle weiterhin deutlich auffälliger als Gesunde. Die Studie besagt im Grunde: Es ist völlig egal, welche Therapie man anwendet.

Doch etliche Experten sind nach wie vor vom langfristigen Nutzen des Einsatzes von Ritalin überzeugt. Einer davon ist Veit Rössner, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Dresden: „Viele Betroffene setzen nach zwei bis drei Jahren das Medikament ab, weil sich vieles verbessert hat, und sie kommen nicht mehr zum Arzt.”

Einige Eltern, die überlegen, ihrem Kind Ritalin zu geben, sehen sich noch mit einer anderen quälenden Frage konfrontiert: Methylphenidat wirkt im Gehirn ähnlich wie Kokain. Beide Moleküle binden sich an den sogenannten Dopamin-Transporter und blockieren ihn. Das hat zur Folge, dass sich der Botenstoff Dopamin an den Rezeptoren – den körpereigenen Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen – anreichert (siehe Grafik auf dieser Seite links). Besteht also die Gefahr, dass die Arznei die Kinder später drogenabhängig macht?

Wann Ritalin süchtig macht

Die bisherigen Studien widersprechen sich. Einige scheinen zu belegen, dass Methyl-phenidat später eher süchtig macht, andere fanden keinen solchen Zusammenhang oder besagen sogar das Gegenteil. Eine aktuelle Metaanalyse der Harvard Medical School in Boston kam sogar zu dem Schluss, dass die Studien überwiegen, laut denen medikamentös behandelte Kinder mit ADHS später seltener Drogen oder Alkohol verfallen.

Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Aufschlussreich hierzu ist die Arbeit von Heinz Steiner, Pharmakologe von der Rosalind Franklin University of Medicine and Science. Er studiert die Wirkung der Substanz und ihren Einfluss auf die Drogenabhängigkeit an Ratten. Jeden Tag beobachtet er an jugendlichen Ratten, wie Methylphenidat das Gehirn dauerhaft umstrukturiert. Es verändert die Gene dort so, dass die Tiere anfälliger für Drogenkonsum werden.

Steiner hat einen Effekt beobachtet, der die widersprüchlichen Befunde bei Menschen erklären könnte: Nach einer Methylphenidat-Behandlung verlangen die Ratten verstärkt nach Kokain und verabreichen sich höhere Dosen. Doch die Droge wirkt nicht mehr so stark belohnend, sie macht die Tiere also weniger „ high”. Als Folge lässt deren Verlangen nach Kokain nach. Diese Reaktion könnte auch Menschen vor einer Abhängigkeit schützen.

Und der Pharmakologe hat noch einen Verdacht, warum manche behandelten Kinder eher süchtig werden als andere: Viele ADHS-Kinder – in den USA sind es etwa die Hälfte – bekommen parallel zu Ritalin auch Antidepressiva verabreicht. Das sind oft Wirkstoffe aus der Klasse der sogenannten Serotoninwiederaufnahmehemmer.

Diese Antidepressiva machen den wesentlichen Unterschied zwischen der Wirkung von Kokain und Methylphenidat im Kopf zunichte: Bei Kokain fluten auch große Mengen Serotonin an. Bei Ritalin ist das nicht der Fall. Aber verabreicht man es zusammen mit einem Serotoninwiederaufnahmehemmer, ist die Wirkung ähnlich wie bei Kokain. Dazu kommt, dass das Wirkstoff-Duo die Ratten nicht nur nach mehr Kokain verlangen lässt, sondern auch sehr stark belohnend wirkt – die Tiere also einen ordentlichen Kick bekommen. Heinz Steiner wird diese Befunde seiner Forschungsarbeit noch in diesem Jahr veröffentlichen.

Keine Angst bei korrekter Dosierung

Im Gespräch mit bild der wissenschaft äußert er die Sorge, dass seine Erkenntnisse den Eltern Angst machen könnten. Der Pharmakologe, der an der Universität Düsseldorf promoviert hat, betont: Er selbst würde seinem Kind das Medikament trotzdem geben, wenn es ADHS hätte. Denn er geht davon aus, dass nur die hohen Ritalin-Dosen beim Rattenversuch gefährlich sind. Bei Kindern werden in der Therapie erheblich geringere Mengen verabreicht.

Dann aber wäre der unkontrollierte Handel von Tabletten auf Schulhöfen und der Missbrauch etwa als Pille für bessere Abschlussarbeiten ein großes Problem. In den USA ist dieses Doping weit verbreitet. Über die Situation in Deutschland weiß man nichts Genaues. Aber die Lehrer sind beunruhigt. So warnte 2013 der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes Klaus Wenzel vor steigendem Arzneimittelmissbrauch an Schulen. •

von Susanne Donner

Leichter Rückgang beim Ritalin-Konsum

20 Jahre lang nahm der Verbrauch des Wirkstoffs Methylphenidat (Handelsname: Ritalin) in Deutschland immer weiter zu. Das Medikament wird vor allem Kindern mit ADHS verschrieben. 2012 kauften die Apotheken über 1800 Kilogramm davon. 2013 verzeichnete das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte erstmals einen Rückgang von zwei Prozent – das könnte ein erstes Zeichen dafür sein, dass in der Ärzteschaft ein Umdenken bei der Behandlung von Kindern mit Psychopharmaka stattfindet.

Ritalin wirkt wie Kokain

Ritalin gleicht bei ADHS-Patienten den Mangel des Botenstoffs Dopamin im Gehirn aus. Die Wirkweise entspricht der von Kokain. Mit dem möglichen Überschuss des „Glückshormons” Dopamin geht die Gefahr einer Sucht einher.

Mehr zum Thema

INTERNET

Hilfreiche Informationen über ADHS: www.deutschland-adhs.de

Bundesweites Netzwerk zur besseren Versorgung von Menschen mit ADHS: www.zentrales-adhs-netz.de

LESEN

Caterina Gawrilow Lehrbuch ADHS Modelle, Ursachen, Diagnose, Therapie UTB, Stuttgart 2012, € 24,99

Cordula Neuhaus ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen Symptome, Ursachen, Diagnose und Behandlung Kohlhammer, Stuttgart 2012, € 17,90

Kompakt

· Laut einer Studie verhilft Ritalin Kindern mit ADHS langfristig nicht zu einem glücklicheren Leben.

· In Tierversuchen zeigte sich, dass der Wirkstoff Methylphenidat das Gehirn dauerhaft umstrukturiert.

· Zusammen mit Antidepressiva ergibt sich ein gefährlicher Cocktail.

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