Angesichts steigender Covid-19-Fallzahlen haben 80 internationale Experten einen offenen Brief veröffentlicht. Darin beschreiben sie, welche Maßnahmen aus wissenschaftlicher Sicht zur Eindämmung der Pandemie und zum Schutz von Menschenleben und Wirtschaft geeignet sind. Eindringlich warnen sie vor Herdenimmunitätsansätzen, die darauf beruhen, eine Infektion bei weiten Teilen der Bevölkerung zuzulassen und darauf zu hoffen, dass eine natürliche Immunität die Pandemie beendet.
Das Coronavirus Sars-CoV-2 ist hoch infektiös und da es sich um ein neues Virus handelt, gegen das noch keine ausreichende Grundimmunität besteht, breitet es sich rasch aus. Um die Übertragung einzudämmen, haben viele Länder weitreichende Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens beschlossen. Als Alternative zu solchen Maßnahmen sehen manche sogenannte Herdenimmunitätsansätze. Die Idee dahinter: Wenn sich das Virus in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitet und lediglich Risikogruppen vor einer Ansteckung geschützt werden, würden innerhalb kurzer Zeit viele Menschen immun gegen das Virus. Durch die Herdenimmunität könnte sich das Virus nicht weiter ausbreiten, wodurch auch nicht immune Risikogruppen geschützt wären, argumentieren Befürworter.
Warnung vor unkontrollierter Verbreitung
„Das ist ein gefährlicher Trugschluss, der nicht durch die wissenschaftliche Evidenz gestützt wird“, warnen nun 80 internationale Experten in einem offenen Brief, den sie im Fachmagazin The Lancet sowie auf einer eigens dafür eingerichteten Website veröffentlicht haben. Die Autoren haben Expertise in Bereichen wie Epidemiologie, Virologie, Infektionsmedizin, Psychologie, Soziologie, Gesundheitspolitik und mathematische Modellierung. Ihre Stellungnahme bezeichnen sie als John Snow Memorandum, zu Ehren des britischen Mediziners John Snow (1813-1858), einem Pionier der Epidemiologie. Die Autoren erkennen an, dass die anhaltenden Beschränkungen verständlicherweise zu einer weit verbreiteten Demoralisierung und einem schwindenden Vertrauen in der Öffentlichkeit geführt haben und daher das Interesse an Herdenimmunitätsansätzen zunimmt.
„Eine unkontrollierte Verbreitung des Virus unter jungen Menschen birgt jedoch das Risiko einer deutlich erhöhten Krankheitslast und Sterblichkeit in der gesamten Bevölkerung“, warnen die Wissenschaftler. Wie Beweise aus verschiedenen Ländern zeigen, sei es praktisch nicht möglich, unkontrollierte Ausbrüche auf bestimmte Bevölkerungsgruppen zu begrenzen. Abgesehen davon sei es in hohem Maße unethisch, die Risikogruppen und damit große Teile der Gesellschaft – die Autoren gehen von rund jedem Dritten aus – über lange Zeit zu isolieren. Bestehende Ungleichheiten würden so noch stärker verschärft als es durch die Pandemie ohnehin schon der Fall ist. Außerdem würden die Gesundheitssysteme überlastet, was sowohl zu Lasten der Beschäftigten ginge, als auch die akute und routinemäßige Versorgung anderer Erkrankter gefährden würde.
Wiederholte Ausbrüche durch abnehmende Immunität möglich
Überdies sei noch nicht geklärt, wie wirksam und wie lange eine überstandene Covid-19-Erkrankung überhaupt vor einer Neuinfektion schützt. Nimmt die Immunität mit der Zeit wieder ab, kann es über Jahre hinweg immer wieder zu neuen Ausbrüchen kommen. Die Pandemie wäre somit nicht beendet und gerade Risikogruppen wären auf unbestimmte Zeit einer erheblichen Gefahr ausgesetzt. „Spezielle Bemühungen, die besonders Gefährdeten zu schützen, sind wichtig, aber sie müssen Hand in Hand gehen mit Strategien, die auf der Bevölkerungsebene ansetzen“, so die Forscher.
Dem Argument, Lockdown-Maßnahmen würden der Wirtschaft schaden, setzen sie entgegen, dass die Wirtschaft umso stärker betroffen wäre, wenn plötzlich zahlreiche Arbeitskräfte erkranken und keinerlei Planungssicherheit besteht. Auch aus ökonomischer Sicht wäre ein Herdenimmunitätsansatz demzufolge nur eine Scheinlösung. „Der Schutz unserer Volkswirtschaften ist untrennbar mit der Kontrolle von Covid-19 verbunden. Wir müssen unsere Arbeitskräfte schützen und langfristige Unsicherheiten vermeiden“, heißt es in der Veröffentlichung.
Rückkehr zu einem „nahezu normalen Leben“
Entscheidend sei, entschlossen und schnell zu handeln. „Wirksame Maßnahmen, die die Übertragung unterdrücken und kontrollieren, müssen umfassend umgesetzt werden, und sie müssen durch Finanz- und Sozialprogramme unterstützt werden, die die Reaktionen der Gesellschaft fördern und die Ungleichheiten angehen, die durch die Pandemie verstärkt wurden“, so die Forscher. Um die Übertragungsraten zu senken und zukünftige Lockdowns zu verhindern, werden ihrer Ansicht nach kurzfristige Einschränkungen erforderlich sein. Umfassende Test- und Rückverfolgungssysteme sollen schnelle Reaktionen auf lokale Ausbrüche ermöglichen. Wenn dies gelingt, könnte das Leben nahezu normal weitergehen, ohne dass allgemeine Beschränkungen erforderlich sind. Länder wie Neuseeland, Japan und Vietnam haben gezeigt, wie dass dies möglich ist.
Abschließend fassen die Forscher zusammen: „Die Beweise sind sehr klar: Die Verbreitung von Covid-19 unter Kontrolle zu halten, ist der beste Weg, unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften zu schützen, bis sichere und wirksame Impfstoffe und Therapeutika in den kommenden Monaten zur Verfügung stehen. Wir können uns keine Ablenkungen leisten, die eine wirksame Reaktion untergraben; es ist wichtig, dass wir auf der Grundlage der Beweise so schnell wie möglich handeln.“
Quelle: John Snow Memorandum, The Lancet, doi: 10.1016/S0140-6736(20)32153-X