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GELÄHMT AUF HÖHENFLUG

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GELÄHMT AUF HÖHENFLUG
Trotz schwerster Behinderung glänzt Stephen Hawking seit Jahrzehnten mit Spitzenleistungen. Wie schafft er das – und warum hat er nicht längst den Nobelpreis bekommen?

„Es ist sehr wichtig, dass junge Menschen sich das Staunen bewahren und immer wieder nach dem ,Warum‘ fragen. Ich bin selbst ein Kind, in dem Sinn, dass ich immer noch suche”, sagte Hawking letztes Jahr. Anlass war die Veröffentlichung seines jüngsten Buchs „Der geheime Schlüssel zum Universum”. Verfasst hat er es mit seiner Tochter Lucy, die als Journalistin in London für renommierte englische Zeitungen arbeitet, und auch als Schriftstellerin erfolgreich ist. „Ich wollte ein Buch schreiben, das meinem Sohn William die Chance gibt, zu verstehen, was mein Vater geleistet hat”, erklärt die studierte Sprachwissenschaftlerin, wie es zur Idee des Kinderbuchs kam. Einer Studie zufolge, die der britische Fernsehsender BBC vor einigen Jahren machte, ist Hawking der berühmteste lebende Wissenschaftler. Sein 1988 veröffentlichtes Buch „Eine kurze Geschichte der Zeit” wurde zum internationalen Bestseller schlechthin. Angeblich jeder 500. Mensch hat das populärwissenschaftliche, in 30 Sprachen übersetzte Kosmologie-Sachbuch erworben – aber nicht unbedingt gelesen.

Stellenweise ist das Buch für Laien schwer nachvollziehbar, was Hawking dazu bewog, 2005 zusammen mit dem Physiker und Drehbuchautor Leonard Mlodinow eine aktualisierte und teils stark vereinfachte Version herauszubringen. „Die kürzeste Geschichte der Zeit” verkaufte sich jedoch nicht gut. Mit Mlodinow arbeitet Hawking gerade an einem neuen Buch, „The Grand Design”, das die Naturgesetze ins Visier nimmt, und an einem Kinofilm, „Beyond the Horizon”, der Hawkings Leben und Werk veranschaulichen soll – mit ihm selbst in der Hauptrolle. Einen TV-Spielfilm über seine Jugend („Hawking” von Philip Martin, 2004) und einen Kinofilm über seine Forschungen mit Interviews von Weggefährten („A Brief History of Time” von Errol Morris, 1991) gibt es bereits.

Der wesentliche Grund für Hawkings Publicity ist seine schreckliche Krankheit. Immer wieder berichtet die Boulevard-Presse darüber, und zuweilen tritt der Physiker sogar in TV-Talkshows auf. Seit über 40 Jahren leidet er an ALS (siehe Kasten unten „Gut zu wissen”). Mit der fast vollständigen Muskellähmung passt er perfekt zum Klischee des an den Leib gefesselten genialen Geistes, der die Grenzen der Erkenntnis zu sprengen versucht. Die französische Philosophin und Anthropologin Hélène Mialet, die am Department of Anthropology der University of California in Berkeley forscht und zurzeit ein Buch über Stephen Hawking fertigstellt, „Hawking Incorporated”, drückt das so aus: „Weder Alter noch Tod fürchtend, wurde Hawking zu einer Art von Engel: gleichermaßen unsterblich (er lebt immer noch, obwohl er zu einem frühen Tod verurteilt wurde), immateriell (er braucht keinen Körper, um zu denken, und kann als reiner Geist gelten) und allgegenwärtig (er befindet sich überall und nirgends, sodass man kaum wissen kann, wo er sich gerade aufhält).” Hawking selbst sieht es ähnlich: „Ich bin sicher, dass meine Behinderung einer der Gründe ist, warum ich so bekannt bin. Die Menschen sind fasziniert von dem Kontrast zwischen meinen sehr eingeschränkten physischen Kräften und der gewaltigen Natur des Universums, mit der ich mich beschäftige. Ich bin der Archetypus des behinderten Genies. Doch ob ich ein Genie bin, darf bezweifelt werden.” Seinen Intelligenzquotienten kennt er nicht. „Ich habe keine Ahnung”, sagt Hawking. „Leute, die mit ihrem IQ protzen, sind Loser.”

Stephen William Hawking wurde am 8. Januar 1942 in Oxford geboren, genau 300 Jahre nach Galileo Galileis Tod, wie er gern betont. „Ich schätze, dass rund 200 000 andere Babys an diesem Tag ebenfalls das Licht der Welt erblickten. Ich weiß aber nicht, wer sich davon später auch für Astronomie interessierte.” Seit 1979 ist Hawking Professor für Angewandte Mathematik und Theoretische Physik an der Cambridge University. Hawkings Forschungen zum Urknall waren wegweisend. Die Suche nach einer „ Weltformel”, die fernste Zukunft des Universums und die Stellung des Menschen im Kosmos beschäftigen ihn ebenso wie Zeitreisen und Wurmlöcher – hypothetische Tunnel durch die Dimensionen.

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SCHWARZE LÖCHER VERDAMPFEN

Immer wieder erforscht er auch Schwarze Löcher. 1974 berechnete er, dass diese ominösen Schlünde in der Raumzeit, die alles verschlucken, aufgrund von Quantenprozessen eine Temperatur besitzen und daher eine extrem schwache Strahlung abgeben, die aber irgendwann so stark wird, dass selbst das massereichste Schwarze Loch eines Tages in einer Explosion verdampft. 1975 folgerte er, dass damit auch die physikalischen Informationen darin vernichtet wären – was er 2004 widerrief.

Zwischen dem öffentlichen Bild, der von den Medien inszenierten Ikone, und dem realen Menschen besteht ein himmelweiter Unterschied – das Wortspiel drängt sich auf. Hawking lebt keineswegs weltabgeschieden. Wie jeder Mensch hat auch er seine alltäglichen Freuden und Sorgen. Er hat zwei gescheiterte Ehen hinter sich und ist nun zum dritten Mal liiert. Jane Wilde, mit der er 25 Jahre verheiratet war und drei Kinder hat, ist fast an den schweren Belastungen zerbrochen, die mit der immer größeren Hilflosigkeit und dem gleichzeitig wachsenden Ruhm ihres Mannes einhergingen. Ihre Autobiografie „Music to Move the Stars” (1999) gibt ein tragisches Zeugnis von den tiefen Zerwürfnissen. Während seiner zweiten Ehe mit seiner früheren Pflegerin Elaine Mason kursierten sogar Gerüchte, dass sie ihn misshandelt hätte.

Der Alltag Hawkings ist, abgesehen von dem großen krankheitsbedingten Aufwand, halbwegs normal. Er geht – besser: fährt – zuweilen einkaufen. Mit seinem Sohn Tim hat er schon Formel-1-Rennen besucht. Er wurde auch in Discos gesehen, und mit seiner Kunststimme hat er sich sogar bei einem Karaoke-Singen beteiligt. Meist hört er jedoch klassische Musik: Mozart und Wagner zum Beispiel. Ein anderes Hobby von ihm ist die Beschäftigung mit Geschichte. Und gefragt, was er tun würde, wenn er einen Tag lang in einem gesunden Körper verbringen könnte, sagte er: „Die Antwort wäre nicht jugendfrei.”

1961, in seinem dritten Jahr an der Oxford University, bemerkte Hawking, dass er immer ungelenker wurde. Mehrfach stürzte er ohne Grund. 1963, kurz nach seinem 21. Geburtstag und nach einer langen Serie medizinischer Tests, lautete dann die schreckliche Diagnose: ALS. Das überfiel ihn wie ein Todesurteil. Denn normalerweise stirbt man an dieser degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems innerhalb von zwei bis drei Jahren.

EINE FRAU VERÄNDERTE SEIN LEBEN

„Bevor meine Erkrankung diagnostiziert wurde, hat mich das Leben gelangweilt”, erinnert sich Hawking. „Es schien nichts zu geben, dass es wert war zu tun. Aber kurz nachdem ich aus dem Krankenhaus kam, träumte ich, was gemacht werden musste. Ich realisierte plötzlich, viele wertvolle Dinge tun zu können, wenn ich eine Gnadenfrist bekäme. Obwohl eine Wolke über meiner Zukunft hing, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass ich die Gegenwart mehr genoss als zuvor. Ich begann Fortschritte bei meiner Forschung zu machen. Und ich lernte Jane Wilde kennen, was mein Leben änderte. Das gab mir etwas, das das Leben lohnte. Es bedeutete allerdings auch, dass ich einen Beruf brauchte, um heiraten zu können. Daher bewarb ich mich um eine Forschungsstelle am Gonville and Caius College in Cambridge. Zu meiner großen Überraschung erhielt ich ein Fellowship, und wir heirateten wenige Monate später.”

Bis 1974 konnte Hawking noch selbstständig aufstehen, essen und ins Bett gehen. Dann nahmen er und seine Familie einen Studenten bei sich auf, der für seine Hilfe freie Unterkunft und Hawkings wissenschaftliche Betreuung erhielt. Ab 1980 kam eine Krankenschwester morgens und abends für ein bis zwei Stunden. 1985 zog sich Hawking dann eine Lungenentzündung zu, an der er fast gestorben wäre. Ein Luftröhrenschnitt war erforderlich. Seither braucht er rund um die Uhr Unterstützung.

Neben den Krankenschwestern steht Hawking ein Graduate Assistant zur Seite, der jeweils für ein bis zwei Jahre von der Cambridge University angestellt und bezahlt wird, um „dem Professor in allen Bereichen zu helfen, in denen er aufgrund seiner Behinderung Schwierigkeiten hat”, wie es in der Stellenbeschreibung heißt. Dazu gehört hauptsächlich, Hawkings Computer und Rollstuhl instand zu halten, seine Reisen zu organisieren, Diagramme für Vorträge vorzubereiten, Hawkings Homepage zu aktualisieren, mit den Medien zu kommunizieren und einen Teil der Leserpost zu beantworten. Letzteres tut Hawking selbst fast nie. Aber es gibt Ausnahmen: Als zum Beispiel ein Verzweifelter sich das Leben nehmen wollte, nachdem bei ihm ALS diagnostiziert wurde, gab Hawking ihm sofort Trost und Rat.

Bis 1985 konnte Hawking noch sprechen – wenn auch so undeutlich, dass ihn nur wenige verstanden, die seine Worte dann für andere übersetzten. Immerhin war er so in der Lage, Seminare zu halten und per Diktat seine Fachartikel zu verfassen. Nach dem Luftröhrenschnitt bestand die einzige Kommunikationsform darin, dass er eine Augenbraue hob, wenn ihm auf einer Karte die gewünschten Buchstaben gezeigt wurden – ein furchtbar langwieriges und mühseliges Unterfangen. Als Walt Woltosz, ein Computerexperte in Kalifornien, von Hawkings Misere hörte, schickte er ihm sein Programm „Equalizer”, das mit einem Sprachsynthesizer Texte in Laute umwandelt. Dazu bekam Hawking einen Computer an seinen elektrischen Rollstuhl montiert. Seither kann er wieder sprechen – „bis zu 15 Wörter pro Minute”, wie er sagt – mit einer monotonen und doch eigenartig ätherischen Kunststimme. „Der einzige Nachteil ist, dass der Synthesizer mir einen amerikanischen Akzent gibt.”

Bis 2005 betätigte Hawking den Computer mit der noch etwas beweglichen linken Hand, indem er Buchstaben oder Wörter aus einem Menü anklickte und speicherte oder satzweise an den Synthesizer schickte. Inzwischen ist seine Hand dafür zu schwach. Nun kommuniziert er mithilfe seines rechten Wangenmuskels: Ein Sensor an der Brille, der durch ein Kabel mit dem Computer verbunden ist, registriert die Muskelanspannung über die Reflexion eines Infrarotstrahls.

DENKEN STATT RASENMÄHEN

„Obwohl ich Pech hatte und ALS bekam, hatte ich sonst in fast allem Glück”, sagt Hawking. „Ich bin froh, mit der Theoretischen Physik begonnen zu haben, eines der wenigen Forschungsfelder, bei dem die Behinderung kein ernstes Handicap ist.” Hawking nennt sogar Vorteile seiner Krankheit. „Ich muss keine Vorlesungen halten und mich nicht auf den vielen Sitzungen langweilen.” Auch von anderen lästigen Pflichten ist er entbunden, Geschirrspülen und Rasenmähen zum Beispiel, so dass er mehr Zeit zum Denken hat, wie er sagt.

Doch Denken allein reicht nicht aus. Wie arbeitet Hawking, wie bereichert sein Denken die Wissenschaft? Typischerweise fährt er gegen elf Uhr in sein Büro und bleibt bis abends um sieben. Er arbeitet an seinen Forschungen und Vorträgen, liest neue Artikel in den elektronischen Archiven, beantwortet E-Mails und telefoniert über eine spezielle Computerverbindung. Der alle zwei Jahre mit neuen Programmen aufgerüstete Computer ist seine Schnittstelle zur Welt. Auch mathematische Texte kann er verfassen. „Ich schreibe meine Artikel mit dem Programm TeX. Ich kann die Gleichungen mit Wörtern ausdrücken, und das Programm übersetzt sie in Symbole.”

Die Mathematik selbst ist aufgrund seiner Behinderung freilich extrem mühsam. Aber Hawking hat seine Tricks entwickelt, um so effektiv wie möglich vorzugehen. „Stephen macht die mathematische Seite seiner Forschung im Kopf. Er verwendet geometrische Techniken, mit denen er Bilder anstelle von Gleichungen manipulieren kann”, beschreibt Kip Thorne, Professor am California Institute of Technology, die Arbeit seines Freundes. „ Er findet Wege, die Fragen auf eine geometrische Weise neu zu definieren. Er vermag Probleme, die sich geometrisch formulieren lassen, besser zu lösen und verstehen als jeder andere.”

Freilich muss Hawking die detaillierte Ausarbeitung seiner Ideen oft anderen überlassen. „Komplizierte Berechnungen kann Stephen nicht mehr selbst ausführen, aber oft braucht er nur ein paar Sätze, um einen wesentlichen Punkt zu erläutern”, sagt Thomas Hertog, der bei Hawking promoviert hat und noch immer eng mit ihm zusammenarbeitet. „Er strengt sich sehr an, um ein möglichst normales Leben zu führen.” Hawking sieht das auch umgekehrt: „Für meine Kollegen spielt meine Behinderung keine Rolle – abgesehen von praktischen Zwängen, wenn sie etwa auf eine Antwort von mir warten müssen.” Hertog: „Für die Forscher um ihn herum ist er einer der Ihren. Doch je weniger die Menschen mit ihm persönlich zu tun haben, umso mehr sind sie von ihm fasziniert.”

„HALLO!”, TÖNTE DIE COMPUTERSTIMME

Auf soziale Beziehungen legt Hawking großen Wert. Jeden Mittwoch isst er mit seinen Doktoranden zu Mittag, und einer aus der Gruppe berichtet dabei von seiner Arbeit. Auf wissenschaftlichen Konferenzen hört Hawking gerne möglichst viele Vorträge an – seine Anwesenheit ist dann nicht zu überhören, weil sein Computer bei bestimmten Eingaben piepst –, und beim Essen sitzt er mit am Tisch und verfolgt aufmerksam die Diskussion, während er von einer Krankenschwester gefüttert wird.

Zuweilen spricht er sogar selbst Leute an. So auch den bdw-Astronomieredakteur während einer Kaffeepause auf einem Kosmologie-Symposium 2003 an der University of California in Davis: „Hallo!”, tönte die Computerstimme. Was folgte, war ein naturgemäß etwas einseitiges Gespräch. Aber so ergab sich die Gelegenheit, um Stephen Hawking etwas Persönliches zu fragen: Angenommen, eine allwissende Fee würde eine beliebige Frage beantworten – welche würde Hawking ihr stellen? Er grinste und klickte sich durch die Buchstaben und Wörter seines Sprachprogramms – ein minutenlanger Vorgang, der etwas Orakelhaftes an sich hatte. Was Hawking schließlich wissen wollte: „Is M-Theory complete?” („Ist die M-Theorie vollständig?” ) Die M-Theorie ist eine Verallgemeinerung der Stringtheorie – und momentan vielleicht der aussichtsreichste Kandidat für eine „ Weltformel”.

Ist Hawking die große Ausnahmeerscheinung, zu der er immer wieder hochstilisiert wird? Ja, insofern kein Menschen auf der Welt bekannt ist, der so lange mit dieser schrecklichen Krankheit gelebt hat und zudem kontinuierlich produktiv blieb. Mit rund 200 wissenschaftlichen Publikationen, davon ein signifikanter Anteil als Alleinautor, hat Hawking eine Bibliografie, die umfangreicher ist als die vieler kerngesunder Forscher. Dennoch: Seine Forschungen sind nicht singulär, sondern müssen im Kontext vieler anderer gesehen werden, teilweise auch in Konkurrenz zu diesen. Seine Erkenntnisse wären ohne die Leistungen seiner Kollegen kaum möglich. Viele Artikel hat er zusammen mit anderen verfasst. Auch beruhen seine Forschungen, wie das in der Physik fast immer der Fall ist, auf den Ergebnissen anderer Wissenschaftler. Er steht mit vielen Kollegen in regem Gedankenaustausch und reist viel. Bei der Auswahl seiner Doktoranden und anderen Institutsangehörigen achtet er darauf, dass verschiedene Forschungsgebiete hochkarätig besetzt sind. Das erweitert nicht nur sein Wissen, sondern hilft ihm auch, mehrere Themen gleichzeitig anzugehen. Vergleiche mit Einstein lehnt Hawking ab. „Ich achte nicht darauf, wie mich Journalisten beschreiben. Ich weiß, dass ich Teil eines Medien-Hypes bin. Sie brauchen eine Figur wie Einstein. Aber sie verstehen weder Einsteins Arbeit noch meine.”

OHNE BEWEIS KEIN NOBELPREIS

Dass Stephen Hawking dank seiner Verdienste den Physik-Nobelpreis bekommt, ist unwahrscheinlich. Vermutlich weiß er das selbst, sonst würde er nicht so viele Scherze darüber machen. Zwar wurden immer wieder Theoretische Physiker mit der begehrten Medaille ausgezeichnet – früher allerdings häufiger als in den letzten Jahren, man denke nur an den Preis-Reigen für die Quanten- und Elementarteilchenphysiker in den 1920er und 1930er Jahren.

Doch für Kosmologen und Relativitätstheoretiker sieht die Bilanz schlecht aus. Nicht einmal Einstein wurde für diese Forschung geehrt – er erhielt den Preis 1921 für seinen Beitrag zur Quantenphysik. Zwar gab es zwei Preise für die Entdeckung und Erforschung der Kosmischen Hintergrundstrahlung (1978 und 2006), doch George Gamow, der deren Existenz schon 1948 vorausgesagt hatte, ging leer aus. Ebenso alle Theoretiker – Hawking ist einer von ihnen –, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren die winzigen Temperaturschwankungen in dem Nachleuchten des Urknalls korrekt vorausgesagt hatten. Die Fluktuationen wurden 1992 vom Satelliten COBE gemessen – und der leitende Wissenschaftler des Entdeckerteams, George Smoot, erhielt 2006 als Einziger die Einladung nach Stockholm.

Fazit: Das Nobelpreis-Komitee scheint die Theoretische Kosmologie nicht besonders zu schätzen. Sicherlich wären die Singularitätstheoreme von Hawking und Penrose preiswürdig. Aber sie lassen sich nicht experimentell bestätigen, zumal sie ja „nur” eine fundamentale Grenze der Allgemeinen Relativitätstheorie markieren. Vier Jahrzehnte nach der Veröffentlichung scheint das Thema ohnehin aus dem Blickfeld des Komitees geraten zu sein. Auch die jüngeren kosmologischen Arbeiten Hawkings lassen sich in absehbarer Zeit kaum hieb- und stichfest überprüfen. Außerdem gibt es andere Forscher, deren Beiträge dann genauso preiswürdig wären. Bleibt allenfalls die Entdeckung der Hawking-Strahlung explodierender Schwarzer Löcher. Ihr Nachweis ist durchaus möglich:

· Die Minilöcher könnten Relikte des Urknalls sein und mit Gammastrahlen-Observatorien aufgespürt werden. Doch die bisherigen Messungen sprechen dagegen.

· Die Minilöcher könnten auch in Teilchenbeschleunigern erzeugt werden, vielleicht demnächst im Large Hadron Collider bei Genf (bild der wissenschaft 9/2007, „Urknall auf Erden”). Aber dafür wären unwahrscheinliche Zusatzbedingungen nötig: mindestens zwei submillimetergroße Extradimensionen.

· Ereignishorizonte mit Hawking-Strahlung lassen sich auch in anderen Medien simulieren: etwa durch Laserstrahlen in optischen Fasern oder durch überschallschnelle Bewegungen im Bose-Einstein-Kondensat, einer ultrakalten Quantenmaterie. Experimente von Ulf Leonhardt, University of St. Andrews, und Computersimulationen von Iacopo Carusotto, Universität Trient, fanden vor wenigen Monaten erste Indizien. Doch selbst im günstigsten Fall wäre das nur eine indirekte Bestätigung. „ Hawking hat großartige Arbeit geleistet, aber wir sind uns noch nicht sicher, ob sie wirklich die Natur beschreibt”, hat denn auch Anders Barany, Sekretär des Nobel-Komitees, bereits vor einigen Jahren alle Erwartungen gedämpft. Und als das britische Institute of Physics 250 führende Wissenschaftler 2000 nach dem größten Physiker aller Zeiten befragte, erhielt Hawking lediglich 2 Stimmen – Einstein kam mit 119 Stimmen auf den ersten Platz.

von Rüdiger Vaas

Gut zu wissen: Amyotrophe Lateralsklerose

Der eigene Körper als Gefängnis – was sich wie ein Horrorfilm anhört, trifft jedes Jahr einen bis drei von 100 000 Menschen, meist im Alter zwischen 45 und 65 Jahren: die Diagnose ALS (Amyotrophe Lateral- sklerose). Sie ist eine irreversible Degeneration der Motoneuronen von Gehirn, Rückenmark und peripherem Nervensystem. Das Absterben dieser Nervenzellen, die die Muskeln steuern, führt meist zwei bis fünf Jahre nach dem Beginn der Symptome zur vollständigen Lähmung und dann zum Tod, wenn auch die Atemmuskulatur versagt. Zuvor kommt es zu neuropathischen Schmerzen, oft auch zu Depressionen und Schlaflosigkeit. Bei 20 bis 50 Prozent der Patienten ist außerdem das Denkvermögen beeinträchtigt. Lungenentzündungen sind ebenfalls häufig, da die Muskelschwäche zu einer schlechten Belüftung führt und das Schlucken behindert wird – außerdem geraten zuweilen Speisereste in die Atemwege. Allein in Deutschland haben rund 6000 Menschen ALS. Das Risiko zu erkranken liegt bei über 1 zu 1000.

Die schreckliche Nervenkrankheit wurde erstmals 1869 von dem französischen Arzt Jean-Marie Charcot wissenschaftlich beschrieben. Ihre Ursache ist bis heute ungeklärt. In Verdacht stehen Viren, Neurotoxine, Schwermetalle, Enzym- oder Immunsystem-Abnormalitäten. Fünf bis zehn Prozent der ALS-Erkrankungen sind erblich bedingt – vier entsprechende Gene wurden bereits identifiziert. ALS ist bislang unheilbar. Das Medikament Riluzol kann – wenn früh verabreicht – die Lebenserwartung wenigstens um ein paar Monate erhöhen.

Prominente ALS-Kranke waren der Baseballspieler Heinrich Ludwig „Lou” Gehrig, der 1941 mit 37 Jahren starb (daher heißt ALS in den USA auch Lou-Gehrig-Syndrom), der Philosoph Franz Rosenzweig, der Maler Jörg Immendorff, der Ötzi-Forscher Konrad Spindler und der chinesische Politiker Mao Zedong. Nur etwa zehn Prozent der Erkrankten leben nach der Diagnose noch zehn Jahre oder etwas länger. Warum Stephen Hawking einen medizinischen Rekord aufstellt, 45 Jahre nach der Diagnose, ist den Ärzten ein Rätsel.

KOMPAKT

· Stephen Hawking ist vollständig gelähmt. Doch in Gedanken kann er das Universum erforschen vom Anfang der Zeit im Urknall bis zum Ende in Schwarzen Löchern.

· Mithilfe seines Sprachcomputers, vielen Mitarbeitern und eigenen mathematischen Techniken leistet er Spitzenforschung. Doch da sich seine Theorien kaum durch Messungen überprüfen lassen, stehen seine Aussichten für den Physik-Nobelpreis schlecht.

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