Bisher gibt es für Querschnittsgelähmte kaum Hoffnung darauf, trotz durchtrenntem Rückenmark wieder eigenständig gehen zu können. Doch dank technischer Fortschritte wie implantierbaren Elektroden ändert sich dies allmählich. Jetzt haben Forscher erstmals eine Technik vorgestellt, mit der Betroffene sogar direkt nach der Implantation der “Rückenmarks-Schrittmacher” die ersten Schritte machen können – wenn auch zunächst noch in einem Tragegestell. Nach fünf Monaten des Trainings konnten die drei Testpatienten mit einem Rollator laufen. Möglich wird dies dank optimierter Elektroden an den Nervenwurzeln des unteren Rückens und einer mittels künstlicher Intelligenz optimierten Signalgebung.
Sind die Nervenleitungen unterbrochen, die die Signale zwischen Gliedmaßen und Gehirn übermitteln, ist meist eine dauerhafte Querschnittslähmung die Folge. Denn das durchtrennte Rückenmark hat nur geringe Fähigkeiten zur Selbstheilung und wächst nicht von allein wieder zusammen. Inzwischen forschen Wissenschaftler jedoch an mehreren Ansätzen, um dieses Problem zu umgehen. Neben molekularen und stammzellbasierten Methoden hat sich dabei vor allem die Neurostimulation als erfolgreich erwiesen. Dafür wird den gelähmten Patienten ein System von Elektroden direkt ans Rückenmark implantiert. Deren elektrische Signale aktivieren die Schaltkreise und Nervenwurzeln, die normalerweise die Bewegungssignale vom Gehirn an die Beinmuskeln übertragen. 2018 erlangte dadurch ein teilweise gelähmter Patient seine motorischen Funktionen so weit zurück, dass er aus dem Rollstuhl aufstehen und mithilfe eines Rollators gehen konnte.
Gezielte Reizung der Nervenwurzeln
Bisher jedoch erfordern solche Elektrostimulations-Therapien ein monatelanges, mühevolles Training, bevor ein Effekt sichtbar wird. Andreas Rowald von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) und seinen Kollegen ist es nun gelungen, die Methodik so zu optimieren, dass Patienten sogar schon am ersten Tag nach der Implantation der Elektroden gestützt die ersten Schritte machen können. Möglich wurde dies durch zwei entscheidende Veränderungen gegenüber früheren Ansätzen: Zum einen passte das Team die Elektroden-Anordnung so an, dass sie gezielter auf die dorsal aus dem Rückenmark austretenden Nervenwurzeln einwirkt, die für die Bewegung der Beine und des unteren Rumpfs zuständig sind. “Die Herausforderung bestand darin, ein Arrangement der 16 Elektroden zu finden, das trotz der individuell verschiedenen Topologie des Rückenmarks die 16 dafür wichtigen dorsalen Nervenwurzeln abdeckt”, schreiben die Wissenschaftler. Dafür entwickelten sie detaillierte und naturgetreue Simulationen der neuronalen Topografie. “Unsere neuen Implantate werden unter die Wirbel direkt auf das Rückenmark gesetzt”, erklärt Seniorautor Grégoire Courtine von der EPFL. “Dort modulieren sie die Neuronen, die spezifische Muskelgruppen kontrollieren.”
Im nächsten Schritt galt es, die individuellen Nervensignale für jeden Testpatienten zu kartieren. Alle drei Patienten – Männer im Alter zwischen 29 und 41 Jahren – hatten ein bis neun Jahre zuvor durch Motorradunfälle eine Durchtrennung des Rückenmarks im Brustbereich erlitten und waren dadurch querschnittsgelähmt. Keiner von ihnen konnte seine Beine bewegen oder spüren. Um das System an die individuellen neuronalen Gegebenheiten dieser Patienten anzupassen, reizten die Forscher die Sehnen ihrer Beine und bewegten die Beingelenke passiv und beobachteten anhand der Sauerstoffversorgung der Nervenwurzeln, wo diese Signale am Rückenmark ankamen. Mithilfe eines lernfähigen Algorithmus entwickelten sie daraus ein individuell auf die Patienten zugeschnittenes Reizprofil, das die spezifischen Reizmuster bei bestimmten gängigen Bewegungsmustern nachbildete. “Dadurch können wir das Rückenmark ähnlich aktivieren, wie es normalerweise das Gehirn tun würde, um den Patienten stehen, gehen, schwimmen oder ein Fahrrad fahren zu lassen”, erklärt Courtine.
Erste Schritte schon am ersten Tag nach der OP
Nach diesen aufwendigen Vorbereitungen folgte die Implantation der Elektrodenanordnung am Rückenmark des unteren Rückens sowie einer Steuereinheit unter die Bauchdecke. Direkt nach der Operation wurde die Neurostimulation bei den noch bettlägerigen Patienten optimiert, indem erste Signale von einer Computerschnittstelle an das Elektrodenimplantat geschickt wurde. Das Forschungsteam konnte so ermitteln, ob die zuvor vom lernfähigen Algorithmus entwickelten individuellen Signalmuster passten und führte letzte Feinjustierungen durch. Dann folgte der erste Test: Gestützt durch eine Aufhängung, die einen Großteil ihres Körpergewichts trug, versuchten die Patienten ihre ersten Schritte – mit Erfolg: “Schon am ersten Tag konnten alle drei Probanden erste Schritte auf einem Laufband machen, wenngleich die Bewegung noch wenig ausgeprägt war”, berichtet das Team. Bis zum dritten Tag besserte sich das Gangmuster aber so weit, dass alle drei in dem Haltegeschirr selbstständig gehen konnten. Über ein Tablet stellten die Patienten dabei die gewünschte Bewegungsform selbst ein, die entsprechenden Signale wurde dann an das Kontrollsystem unter ihrer Bauchdecke übertragen.
“Alle drei Patienten lernten dadurch innerhalb eines Tages, zu stehen, zu gehen, Fahrrad zu fahren und ihre Rumpfbewegungen zu kontrollieren”, berichtet Courtine. “Das funktioniert dank der spezifischen Stimulationsprogramme, die wir für jede Aktivität geschrieben haben.” In den folgenden fünf Monaten absolvierten die drei Patienten ein intensives Trainingsprogramm, in dessen Verlauf sie die Muskeln ihrer gelähmten Beine trainierten und lernten, sich mithilfe des Neuro-Schrittmachers zu bewegen. Nach dieser Zeit konnten sie ohne Haltegurte und nur mithilfe eines normalen Rollators selbstständig aufrecht gehen und stehen. In den Griffen des Rollators waren die Knöpfe eingebaut, die den Stimulator steuerten. Einer der Testpatienten schaffte es mithilfe dieser Technik sogar wieder, Treppen hinauf oder hinunter zu gehen. Auch Schwimmen, Kanufahren und das Nutzen eines Liegerads war den drei Männern wieder möglich.
“Es ist wichtig zu betonen, dass diese Patienten nicht ihre natürliche Bewegungsfähigkeit wieder erlangten”, schreiben Rowald und seine Kollegen. Denn auch nach dem monatelangen Training blieb ihr Rückenmark durchtrennt und die Signale kamen allein vom softwaregestützten Stimulationsprogramm. “Aber ihre Rehabilitation war ausreichend, um ihnen wieder verschiedenen Aktivitäten zu ermöglichen”, so das Team. Sie wollen nun daran arbeiten, diese Therapie weiter zu verbessern, damit sie eines Tages auch anderen Querschnittsgelähmten zugute kommen kann.
Quelle: Andreas Rowald (EPFL, Lausanne) Nature Medicine, doi: 10.1038/s41591-021-01663-5