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DIE NEUEN ZEICHEN DER VERWESUNG

Erde|Umwelt Gesundheit|Medizin

DIE NEUEN ZEICHEN DER VERWESUNG
Der Klimawandel konfrontiert die Rechtsmediziner mit neuen Herausforderungen. Die traditionelle Leichenbeschau könnte sie in die Irre führen.

Der Gestank war unerträglich, als Sven Anders mit der Polizei die kleine Mansardenwohnung betrat. „Mir ging sofort durch den Kopf: Die Frau muss mindestens zwei Wochen tot sein”, sagt der promovierte Rechtsmediziner vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Die junge Frau war offenbar das Opfer einer Gewalttat geworden. Jemand hatte sie ins Bett gelegt und zugedeckt. Das Bett stand direkt unter dem Schrägfenster der Mansarde. Es war Hochsommer.

„Unter solchen Bedingungen laufen Verwesungsprozesse sehr viel schneller ab, als es unsere Bestimmungsmethoden vorhersagen. Denn die zielen auf eine Leiche in einem Raum bei Raumtemperatur ab”, sagt Anders. „Liegt die Leiche draußen in der Sonne oder im Schnee, sieht alles gleich ganz anders aus. Natürlich haben wir Korrekturfaktoren für die Berechnung, aber je extremer die Wetterbedingungen sind, desto schwieriger wird die Bewertung.” Der Rechtsmediziner befürchtet: „Da die Klimaveränderungen immer häufiger zu extremen Wetterbedingungen führen könnten, werden wir in Zukunft wohl oft vor schwierigen Fällen stehen.” Klimaforscher rechnen zum Beispiel im Westen Deutschlands mit heißeren und feuchteren Sommern, im Osten hingegen mit heißeren und trockeneren Sommern.

WAS KÖRPER ERHÄLT, ZERSTÖRT LEICHEN

Um den Todeszeitpunkt einzugrenzen, messen Rechtsmediziner nicht nur die Körpertemperatur, sondern auch den Grad der Totenstarre und das Ausmaß der Totenflecken. Noch eine ganze Zeit nach dem Tod reagieren die Muskeln weiter auf Reize: Leichte Stromstöße lassen die Gesichtsmuskulatur noch einen halben Tag nach Eintritt des Todes zucken. Und ein gezielter Schlag auf die Oberarmmuskeln eines kurz zuvor Verstorbenen führt dazu, dass sich der Arm reflexartig zusammenzieht.

„Innerhalb der ersten 24 Stunden können wir so den Todeszeitpunkt recht präzise eingrenzen, danach wird es immer schwieriger”, meint Anders. „Wenn die Leiche etwa auf einem Nordseedeich im Wind gelegen hat und der Sonne ausgesetzt war, müssen wir sehr viele Parameter mit einbeziehen.” Stirbt ein Mensch, endet sein Stoffwechsel nicht schlagartig. Zwar hören die geregelten Prozesse auf, die den Menschen am Leben gehalten haben. Doch mit dem Tod beginnen die Mikroorganismen, die den Stoffwechsel bisher unterstützten, ihren Wirt zu zerlegen. Wie schnell diese Vorgänge ablaufen, hängt nicht nur von der Außentemperatur ab, auch die Feuchtigkeit und der Wind mit seinen kühlenden und trocknenden Eigenschaften beeinflussen die Verwesung.

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DORT ZOMBIE – HIER VAMPIR

„Wie stark die klimatischen Einflüsse auf den Zerfall einer Leiche sind, merkt man schon an den volkstümlichen Vorstellungen von Untoten, Wiedergängern oder Zombies”, sagt Anders. „Menschen stellen sich Untote so vor wie die Leichen, die sie kennen. In der Karibik beispielsweise – mit ihrem tropischen feuchten Klima – sind Bakterien in ihrem Element. Eine Leiche bekommt schnell eine grüne Haut mit roten oder schwarzen Flecken. Sie schwillt an, die Nägel fallen leicht ab. Genauso stellt man sich auf Haiti einen Zombie vor.” Ganz anders etwa in den Karpaten. Hier ist es deutlich kühler, windiger und trockener. Dadurch entstehen die typischen Vampir-Leichen: „Unter diesen Bedingungen zieht sich das Fett- und Bindegewebe zurück, zum Beispiel an den Lippen oder den Händen”, erklärt der Rechtsmediziner. Die Folge: Die Leichen scheinen die Zähne zu blecken. Die Finger werden dünner, und die Nägel treten deutlicher hervor. Sie scheinen sogar rascher zu wachsen als zu Lebzeiten.

Um alle Wetter- und Mikroklimaeinflüsse in ihre Berechnungen einbeziehen zu können, sind Rechtsmediziner stets vor Ort, sobald die Polizei den Verdacht auf ein Tötungsdelikt hegt. „Es ist ein großer Unterschied, ob eine Leiche im Bad auf den kalten Fliesen liegen bleibt, oder ob sie von den Rettungssanitätern auf einen Teppich gelegt wurde, weil sie hofften, das Leben des Menschen noch retten zu können. Auch ein nach der Tat geöffnetes Fenster verändert die Abbaumechanismen der Leiche”, meint Anders. „Den Einfluss solcher Faktoren kann man durch langjährige Berufserfahrung abschätzen. Noch besser sind natürlich Forschungsdaten, die allerdings sehr aufwendig gewonnen werden müssen.” Voraussetzung dafür ist, dass Menschen ihren Körper nach dem Tod der Wissenschaft vermachen. Die Forscher lassen ihn dann unter genau definierten Bedingungen verwesen. Weltweit gibt es nur fünf Einrichtungen, in denen solche Vorgänge akribisch überwacht und dokumentiert werden. Die älteste Leichenüberwachungsstation ist die „Body Farm” der University of Tennessee. Auch die vier anderen Forschungsstationen liegen in den USA. Sie sind in unterschiedlichen Klimaten beheimatet. Denn nur so kann man den Einfluss von Wetter und Klima genau erforschen: kühles Bergklima in Carolina, feuchtheißes Klima in Texas und gemäßigt warmes in Tennessee.

Die damit verbundene Arbeit ist langwierig – und nichts für schwache Gemüter. Die Verwesung muss in jeder Jahreszeit, bei allen möglichen Wetter- und Klimabedingungen untersucht werden. Die Leichen liegen dazu mal im Schatten unter Bäumen, mal in der Sonne in Plastiktüten, sie sind dick oder mager: Stets wird ihr Schicksal genau dokumentiert. Forscher untersuchen die toten Körper regelmäßig. Sie nehmen Gewebeproben und sammeln Insekten ein, die sich auf den Leichen angesiedelt haben. Sensoren messen Temperatur, Feuchtigkeit und Luftbewegungen. Webcams dokumentieren alle Stadien des Verfalls und auch, welche Tiere wann von den Leichen fressen und welche Schäden sie dabei typischerweise anrichten. Die Forscher suchen außerdem nach Biomolekülen, die in verschieden Stadien nach dem Tod entstehen und so weitere Anhaltspunkte zur Bestimmung des Todeszeitpunkts liefern.

EIN SKELETT AUF DEM FELDWEG

Auch das Mikroklima eines Ortes beeinflusst die Zersetzung einer Leiche. Wenige Meter Unterschied zwischen zwei Fundorten können reichen, um Verwesungsprozesse völlig unterschiedlich anzutreiben. Während eine Leiche auf einem Feldweg nach zwei Wochen in der Sonne schon fast skelettiert ist, bleibt sie im Schatten von Bäumen in dieser Zeit äußerlich fast unversehrt.

Bei der Toten in der Hamburger Mansardenwohnung hatten Geruch und Verwesung die Kriminalisten zunächst auf eine falsche Fährte geführt. Der Tod der Frau lag bei Weitem noch keine zwei Wochen zurück, wie Sven Anders durch seine detaillierten Untersuchungen herausfand. Das Mikroklima im Raum hatte dafür gesorgt, dass der Körper in nur zweieinhalb Tagen starke Verwesungsspuren aufwies. ■

von Thomas Willke

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KONGRESS

Mehr über Klima, Wetter und Kriminalität erfahren Sie auf dem Extremwetterkongress 2011, der vom 12. bis zum 15. April an der Universität Hamburg stattfindet. bdw-Abonnenten erhalten einen vergüns-tigten Kongresseintritt und bezahlen statt 199 nur 139 Euro. Am 13. April um 10.50 Uhr spricht der Rechtsmediziner Dr. Sven Anders auf dem Kongress. www.extremwetterkongress.de

LESEN

Wer mehr über die Forschungen der Body Farm der University of Tennessee erfahren möchte, kann dazu einen phänomenal spannenden Kriminalroman lesen:

Simon Beckett DIE CHEMIE DES TODES Rowohlt, Reinbek 2007, € 9,90

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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