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Das überschätzte Kuschelhormon

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

Das überschätzte Kuschelhormon
Oxytocin ist eine körpereigene Substanz, die gegen Angst und Depressionen helfen soll. Die Wirkung des Hormons wird allerdings deutlich überbewertet.

Sie sind nervös vor einem Date? Sie könnten auf die Idee kommen, sich das Oxytocin-Spray „Liquid Trust” im Internet zu bestellen, 7,5 Milliliter für 37 Euro, und sich damit einzusprühen. Sie hoffen, dass Ihr Gegenüber Ihnen dann unbewusst vertraut und sich Ihnen verbunden fühlt? Schön wär’s. Wahrscheinlich warten Sie darauf vergebens. Denn das als Kuschel-, Bindungs- und Vertrauenshormon angepriesene Oxytocin wird häufig überschätzt. Das ist nicht überraschend angesichts zahlreicher Medienberichte über die wahren Wunder, die es vollbringen soll: Bei Beziehungsstress helfen, Treue sichern, für mehr Einfühlungsvermögen und Kooperation sorgen sowie Aggressivität mindern.

Fest steht: Das Hormon, das wie die körpereigenen Opiate zur Gruppe der Neuropeptide gehört, mischt beim zwischenmenschlichem Verhalten mit. Es wird während der Geburt und beim Stillen im mütterlichen Gehirn ausgeschüttet und stärkt so die Bindung zum Säugling. Auch bei liebevollen Berührungen aller Art bis hin zum Orgasmus wird der Stoff bei Frauen und Männern freigesetzt, daher auch sein Ruf als „Liebes- und Orgasmushormon”.

Von öffentlichem Interesse beflügelt, stieg die Zahl der Studien etwa ab 2005 stark an. Mehrere Forschergruppen wiesen nach, dass verabreichtes Oxytocin im Tierversuch wie auch bei Menschen das Vertrauen festigt, Konflikte und Ängstlichkeit reduziert und das soziale Verhalten verbessert. In Frankreich wurde die Substanz jüngst erfolgreich an Patienten mit dem Prader-Willi- Syndrom getestet, einem Gen-Defekt, bei dem es den Betroffenen eklatant an Vertrauen mangelt.

Autismus und Schizophrenie

Oxytocin ist deshalb ein Hoffnungsträger für Therapien gegen psychische Krankheiten wie Autismus, Angst- und Persönlichkeitsstörungen sowie Schizophrenie. Ein Forscherteam um Kai MacDonald an der San Diego School of Medicine der University of California prüft zurzeit den Einsatz gegen Depressionen. Der Stoff könnte als pharmakologische Ergänzung bewährter Therapien dienen. Neue Studien wecken allerdings Zweifel daran, dass Oxytocin auf alle Menschen gleichermaßen positiv wirkt. Die Einwände kommen von mehreren Seiten.

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Eine Forschergruppe um die New Yorker Psychiaterin Jennifer Bartz nahm sich 2011 die wichtigsten Untersuchungen der vergangenen Jahre vor. Bestätigt wurde, dass die Substanz das Verhalten der Versuchspersonen verändert. „Die Effekte werden aber von vielen äußeren Faktoren beeinflusst”, sagt Bartz. So spielen zum Beispiel die Rahmenbedingungen eines Experiments wie Testsituation, Messzeitpunkt und Aufgabenstellung eine Rolle. Außerdem zeigten viele von Bartz geprüfte Experimente nicht die typische positive Wirkung oder erbrachten gar kein aussagekräftiges Ergebnis. Die Bilanz der 52 geprüften Oxytocin-Studien war ernüchternd: 26 waren signifikant, bei fast ebenso vielen, nämlich 20, stellte sich kein signifikanter Effekt ein. Bei 6 Untersuchungen wurde kein Ergebnis berichtet.

Manche Versuche hatten überdies ergeben, dass die Wirkung entscheidend von den Versuchsper- sonen selbst abhängt. „Jeder Mensch hat ein individuelles Hormonsystem, in dem nicht nur der Hormoncocktail unterschiedlich ist, sondern auch die Empfindlichkeit der Rezeptoren für die Hormone”, erklärt Markus Heinrichs vom Lehrstuhl für Biologische und Differentielle Psychologie an der Universität Freiburg. „Vor allem genetische Varianten beeinflussen die Wirkung von Oxytocin, wie unser Team im Hinblick auf Stressreaktionen belegt hat.” Probanden mit einer bestimmten Variante des Oxytocin-Rezeptor-Gens profitieren demnach deutlich von sozialer Unterstützung durch eine nahestehende Person – im Gegensatz zu Versuchsteilnehmern mit einer anderen Variante des Gens.

Mehrere Studien kamen zu dem Schluss, dass Oxytocin sogar eine negative Wirkung haben kann. Bei Säugetiermüttern fördert es zwar die Brutpflege, aber auch die Aggression gegen Eindringlinge, wie eine Forschergruppe an der Universität Regensburg herausfand. Untersuchungen von Carsten de Dreu an der Universität Amsterdam weisen in eine ähnliche Richtung: Oxytocin verstärke Ethnozentrismus, also die Feindseligkeit gegenüber Personen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören, während der Kontakt innerhalb der Gruppe besser werde.

Neid und Schadenfreude

Diese Ergebnisse sind zwar mittlerweile methodisch umstritten. Doch Simone Shamay-Tsoory von der Universität Haifa fand heraus, dass Oxytocin nicht nur das Vertrauen zu anderen Menschen stärken kann, sondern auch Neid und Schadenfreude angesichts finanzieller Gewinne oder Verluste. Bei Borderline-Patienten kann Oxytocin sogar Vertrauen mindern, stellte Jennifer Bartz fest – eine fatale Wirkung, da die Betroffenen ohnehin oft enorme Vertrauensprobleme haben. Aktuelle Versuche von Neurobiologen um Steve Chang von der Duke University in Durham zeigten die ambivalente Wirkung des Hormons: Rhesusaffen, denen Oxytocin verabreicht worden war, verhielten sich in ihren Entscheidungen zunächst merklich egoistischer, nach zwei Stunden dann aber deutlich sozialer. Die Wirkung kann also variieren, je nachdem, wie viel Zeit seit der Gabe des Oxytocins verstrichen ist.

Jüngst machte ein Team um Alexander Lischke und Sabine Herpertz an der Universität Rostock zudem deutlich, dass Frauen auf die Gabe des Hormons anders reagieren als Männer. Bei Frauen, denen Bilder mit bedrohlichen Gesichtern und Szenen gezeigt wurden, erhöhte sich die Aktivität der Amygdala. Die Hirnregion ist für die Verarbeitung von Emotionen wie Angst zuständig. Bei Männern dagegen sank die Aktivität in dem Hirnareal nach einem Spritzer Oxytocin- Nasenspray. „Die unterschiedliche Wirkung hängt mit den weiblichen Zyklushormonen zusammen. Es ist evolutionär sinnvoll, wenn Frauen stärker auf bedrohliche Reize reagieren, weil das der Sicherheit der Nachkommen dient”, erklärt Lischke.

Die meisten Erkenntnisse der Oxytocin-Forschung stammen indes aus Studien mit männlichen Probanden, die leichter zu untersuchen sind als Frauen, deren Menstruationszyklus das Oxytocin-System beeinflusst. „Viele Ergebnisse aus Studien mit Männern können nicht automatisch auf Frauen übertragen werden”, mahnt der Psychologe.

Der Einfluss eines einzelnen Hormons auf das menschliche Verhalten ist also extrem komplex. Keine der körpereigenen „ Drogen” entfaltet nur eine einzige und ausschließlich positive Wirkung. Die gute Nachricht ist: Diese Einsicht kann vor unnötigen Ausgaben schützen. Denn es ist offenbar sinnlos, auf das teure Vertrauensspray aus der Dose zu setzen – und sei die Nervosität vor dem bevorstehenden Date noch so groß. ■

von Eva Tenzer

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