Simon S. sollte an sich in seinen besten Jahren stehen. Er ist Anfang dreißig, hat eine Frau und zwei Kinder. Und doch wünscht er sich in schweren Stunden, tot zu sein. „Für so vieles ist nicht genug Luft da. Keine Luft zum gehen, keine zum Zähne putzen, keine zum aufstehen”, keucht er. Seit zwei Jahren geht auch an guten Tagen nichts mehr ohne das Sauerstoffgerät auf dem Rücken. Für die Treppe in den ersten Stock muss seine Frau die Sauerstoffzufuhr auf drei Liter pro Minute hochdrehen.
Simon S. leidet an Mukoviszidose, einer erblichen Erkrankung, bei der die Funktionen der Organe durch einen zähen, sehr salzhaltigen Schleim behindert werden. Er verstopft besonders Lunge und Bronchien, die dadurch leicht von Krankheitserregern befallen werden. Früher oder später ist die Lunge vom Kampf gegen Bakterien und Viren und vom ständigen Ringen um Luft so zermartert, dass sie bei den meisten Patienten ausgetauscht werden muss. Sie benötigen ein Transplantat, genauer gesagt: das Atmungsorgan eines Verstorbenen.
Seit fast einem Jahr steht auch Simon S. auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Die Ärzte hatten dringend dazu geraten, da seine Lunge zunehmend schlechter funktioniert. Sein Atemvolumen schrumpft immer mehr. Dadurch reichert sich Kohlendioxid in seinem Blut an und vergiftet den Körper allmählich. Die Organe erhalten zu wenig Sauerstoff und drohen, nach und nach ihren Dienst zu versagen.
Was kann getan werden, um das Leben von Patienten wie Simon S. zu retten? Und was geschieht, wenn ein Organ nicht mehr funktioniert? Bis heute gibt es auf lange Sicht nur eine Antwort: Der Patient braucht früher oder später ein Ersatzorgan, sonst wird er nicht überleben. Ein künstliches Organ kann allenfalls für kurze Zeit aushelfen. Doch bis es zu einer Operation kommt, verstreicht viel Zeit. Zeit, in der die Menschen um ihr Leben bangen. Fast ein Drittel der Patienten, die auf eine Transplantation warten, sterben, bevor sie ein Organ erhalten. Denn brauchbare Organe fehlen. Auf eine neue Niere warten die Patienten inzwischen durchschnittlich sechs Jahre.
12 000 Menschen hoffen in Deutschland auf eine solche Transplantation. Zunächst muss ein taugliches Organ bei einem hirntoten Menschen gefunden werden. Die Organisation Eurotransplant vergibt es dann nach der Reihenfolge auf der Warteliste. Für eine Lunge schwankt die Wartezeit zwischen mehreren Monaten bis zu zwei Jahren, je nachdem, wie dringend der Patient aus Sicht der Ärzte das neue Organ benötigt. Im Gegensatz zur Niere entscheidet bei der Lunge die Dringlichkeit und nicht die Position auf der Warteliste. Denn kein anderes Organ bringt die Mediziner so sehr in Zugzwang wie die Lunge, weil es bei den Patienten oft unvermittelt rapide bergab geht. Sollte die Lunge versagen, muss der Patient sofort an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen werden, die die Arbeit des zusammengebrochenen Organs übernimmt. Allerdings sterben die künstlich beatmeten Patienten meistens nach wenigen Wochen.
Gäbe es handliche Maschinen, die dauerhaft die Arbeit eines Organs im Körper verrichten würden, könnten die Transplantationsmediziner auf das natürliche Ersatzorgan verzichten. Der Organspendenmangel wäre ein für allemal Geschichte. Doch trotz jahrelanger Forschung liegt der Traum vom künstlichen Organ bis heute in weiter Ferne: „Ein künstliches Organ, das lebenslang funktioniert, wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Die Forschungsergebnisse sind zwar vielversprechend, aber es ist kein Durchbruch in Sicht”, resümiert Igor Sauer von der Charité in Berlin.
Der Forscher und seine Fachkollegen konzentrieren sich indes auf die Entwicklung von Apparaten, die die Wartezeiten für ein echtes Organ überbrücken und zugleich eine halbwegs befriedigende Lebensqualität bieten. Sauer arbeitet an so genannten Biohybrid-Maschinen: Apparaten, die mit lebenden Zellen eines Organs, zum Beispiel der Niere oder der Leber, voll gepackt sind und dessen Funktionen imitieren. Sie können das versagende Organ nicht vollständig ersetzen, aber kurzfristig seine Funktion übernehmen. Das kann sogar dazu beitragen, dass sich das Organ wieder regeneriert. Sauer berichtet, dass ihm dies bei einigen Lebergeschädigten geglückt sei. Doch Erfolg versprechende klinische Studien mit den Biohybrid-Maschinen stehen noch aus. „ Wenn sich eine einzige Transplantation verhindern ließe und der Patient wieder vollkommen gesunden würde, könnte man 100 000 bis eine Million Euro einsparen”, schwärmt Sauer.
In der Lungenklinik der Medizinischen Hochschule Hannover jubeln die Chirurgen bereits, wenn sich der Zustand ihrer Patienten bei der künstlichen Beatmung zumindest stabilisiert. Derzeit erproben sie dafür eine neue künstliche Lunge an zwölf Patienten. Der handtellergroße Apparat namens „Novalung iLA” – wobei „iLA” für „Interventioneller Lungenassistent” steht – wird anders als bei der herkömmlichen Herz-Lungen-Maschine allein durch die Kraft des Herzens durchblutet. „Das ist ein entscheidender Vorteil”, sagt Martin Strüber, Leiter des Lungentransplantationsprogramms an der Medizinischen Hochschule Hannover. Bei der üblichen künstlichen Beatmung wird die Atemluft maschinell in die Lungenflügel gedrückt. Dieser unnatürliche Druck kann die bereits geschädigte Lunge der Patienten weiter zerstören. „Gerade bei Mukoviszidose-Kranken oder bei Infektionen ist das ein Problem”, sagt Strüber.
Die Novalung wird ohne Operation mit zwei Kanülen an den Blutkreislauf angeschlossen. Sie entfernt Kohlendioxid aus dem Blut und reichert es mit Sauerstoff an. Innerhalb von sechs Stunden normalisiert das Gerät den Kohlendioxidgehalt sowie den pH-Wert des Blutes. „Diese Entlastung gibt der Lunge Zeit zu heilen”, werben die Erfinder der gleichnamigen Firma in Hechingen. Die Ärzte in Hannover sind mit den ersten Erfahrungen zufrieden.
Trotzdem gilt weiterhin: „Die Niere ist das einzige Organ, das für längere Zeit von einem Apparat ersetzt werden kann – vom Dialysegerät”, sagt Sauer. Das Dialysegerät übernimmt die Funktion der Niere, indem es das Blut durch eine Membran schickt und es dabei von Abfallstoffen und Giften frei wäscht. Doch der Apparat kann bei Weitem nicht mit dem natürlichen Vorbild mithalten. Er filtert einige giftige Stoffe mehr schlecht als recht, während er umgekehrt das Blut wichtiger Substanzen beraubt. „Die Natur hat komplexere und elegantere Lösungen als wir”, räumt Sauer ein. Deshalb werden die Mediziner auch in den nächsten Jahren weiter auf natürliche Ersatzorgane angewiesen sein.
„In der letzten Zeit hat sich der Mangel an brauchbaren Organen weiter verschärft”, berichtet Günter Kirste, Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation. Die meisten Menschen besitzen keinen Organspendeausweis, obwohl die Mehrzahl angibt, im Notfall selbst ein Spenderorgan erhalten zu wollen. Zwar haben 2005 mehr Menschen als im Vorjahr Organe gespendet, doch die Zahl der nötigen Transplantationen kletterte noch schneller in die Höhe.
Bei den Nieren stammen etwa 16 Prozent der Transplantate heute nicht mehr von Verstorbenen, sondern von lebenden Spendern. Verwandte oder Freunde können freiwillig eines ihrer beiden Organe zur Verfügung stellen. „Die Nieren-Lebendspende ist heute ein Routineeingriff. Schon die erste Nierentransplantation 1954 war eine Lebendspende”, hebt Kirste hervor. Länder wie die USA und Japan haben die Methode vorangetrieben. Dort kommt heute rund die Hälfte aller Nieren für die Transplantation von Lebenden.
Neuerdings ist die Lebendspende einfacher, weil auch Menschen mit einer anderen Blutgruppen als der Patient eine Niere spenden können. Früher wurde bei abweichender Blutgruppe das Ersatzorgan sofort stark abgestoßen. Doch mit einer trickreichen Vorbehandlung von Organ und Empfänger gelingt es inzwischen, die Abstoßung zu unterdrücken.
Im Blut jedes Menschen schwimmen Antikörper gegen fremde Blutgruppen, die vor der Transplantation herausgefischt werden müssen. Dazu wird das Blut mehrmals gefiltert. Der Filter trägt auf seiner Oberfläche Stoffe, die gezielt die Antikörper gegen das Spenderblut erkennen, packen und festhalten. Beispielsweise schnappen sich Substanzen mit dem Namen „Anti-A-Immunglobuline” Antikörper gegen die Blutgruppe A und entfernen sie aus dem Blut. Das Blut des Empfängers wird so lange gefiltert, bis die Konzentration der Antikörper beim Empfänger stark gesunken ist. Zusätzlich werden Antikörper produzierende Zellen im Blut des Empfängers kurz vor der OP mit einem Medikament vorübergehend zerstört. Das Spenderorgan wird schließlich vom Blut des Spenders frei gespült, bevor es transplantiert wird.
Diese so genannte ABO-inkompatible Lebendspende gelang Kirste erstmals 2004 am Freiburger Universitätsklinikum. Er verpflanzte einem nierenkranken Mann mit der Blutgruppe 0 eine Niere seiner Ehefrau, die über Blutgruppe A verfügt. Das Ehepaar ist nach wie vor wohlauf. Inzwischen hat etwa ein Dutzend weiterer nierenkranker Patienten auf diese Weise in Deutschland ein neues Organ erhalten. „Ich glaube, wir werden mit der ,blutgruppenunverträglichen Nierenlebendspende‘ einen Boom auslösen”, hatte Kirste unmittelbar nach der geglückten Operation zu Journalisten gesagt. Denn sehr viele Patienten befinden sich in der fatalen Lage, dass sie und der Lebenspartner eine Spende wünschen, die aber bis vor Kurzem nicht möglich war, weil die Blutgruppen nicht zusammenpassten und eine Abstoßung unvermeidlich gewesen wäre.
Kirste ist überzeugt, dass das neue Verfahren den wartenden Patienten eine echte Chance bietet. Doch einige Fachkollegen äußern sich kritisch: Die Überlebensrate sei nicht ganz so gut wie bei einer Niere von einem Spender mit gleicher Blutgruppe. So leben laut einer US-amerikanischen Studie 89 Prozent der Patienten ein Jahr nach einer verträglich gemachten Spende noch – im Vergleich zu 96 Prozent bei identischer Blutgruppe. Gleichwohl ist unbestritten, dass die gespendeten Nieren helfen, den Mangel an Organen einzudämmen.
Zwar gibt es Lebendspenden auch bei Leber und Lunge. Doch hier treten vor allem beim Spender viel häufiger Komplikationen auf als bei Nierentransplantationen. Ein gesunder Erwachsener kann problemlos auf eine seiner beiden Nieren verzichten, ohne an Lebensqualität einzubüßen. Dagegen wird bei der Lungenlebendspende einer der fünf Lungenlappen abgetrennt. Zwei Spender sind nötig, um aus den beiden Lappen eine neue Lunge für den Empfänger zusammenzusetzen. Der schwere Eingriff setzt den Spendern stark zu. Oft sammelt sich Wasser in dem verkleinerten Organ, und es entzündet sich. Das Luftvolumen schrumpft dauerhaft um 15 Prozent. „Es ist ein großer Eingriff für die Spender. Überspitzt gesagt, ist die Lebendspende bei Leber und Lunge eine Verzweiflungstat – getrieben vom eklatanten Mangel an Organen von hirntoten Spendern”, sagt Strüber. Wegen der Gefahren und Komplikationen wird die Lebendspende bei der Lunge in Deutschland gar nicht praktiziert.
Weder Simon S. noch seine Familie ahnen an diesem Sonntag, dass dies der vorletzte Tag mit seiner ausgedienten Lunge sein wird. In der Nacht stirbt ein Mann mit Organspendeausweis bei einem Autounfall in Linz. Noch am Morgen wird die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) von Eurotransplant informiert: Simon S. ist der nächste auf der Warteliste, zu dem das Organ hervorragend passt. Alles muss nun schnell gehen. Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr leiden die Ersatzorgane. Gerade die Lunge ist sehr sensibel. Nach dem Hirntod füllt sie sich leicht mit Wasser, oder sie entzündet sich. Warum, ist bis heute nicht geklärt. Oft können Transplantationsmediziner das Atmungsorgan nicht mehr einsetzen, weil es zu stark angegriffen ist. Nur jede fünfte Lunge wird tatsächlich verwendet.
„Der Grund ist, dass die Lunge eine große Berührungsfläche mit der Luft hat”, erläutert Ulrich Martin, Professor an der MHH. 7000 Liter Luft strömen jeden Tag hindurch. Deshalb hat das Organ ein sehr wachsames Abwehrsystem gegen Keime. Die Lungenflügel müssen sofort nach der Entnahme mit einer Konservierungslösung getränkt und auf Eis gelegt werden. Nun bleiben nur sechs bis acht Stunden Zeit. Dann muss die Lunge eingepflanzt sein, sonst beginnen Zersetzungsprozesse, die sie unbrauchbar machen.
Simon S. ist in guter Verfassung, als er in Hannover landet, freilich ein bisschen aufgeregt. Formalitäten, noch eine Routineuntersuchung: Blutdruck, Lungenwerte – zum letzten Mal mit der alten Lunge –, Medikamente zur Unterdrückung des Immunsystems, eine letzte Besprechung. Die Zeit vergeht für Simon S. wie im Traum. Später erinnert er sich vor allem an die Worte einer Krankenschwester: Er werde sich wie neu geboren fühlen. Sein Leben danach werde mit vielen Dornen gespickt sein, aber auch mit einer prächtigen Blüte aufwarten.
„Wir werden eine besondere Form der Lungentransplantation vornehmen”, erklärt der leitende Arzt Strüber. Simon S. ist, wie die meisten Mukoviszidose-Patienten, mit knapp 1,60 Meter sehr klein. „Entsprechend klein ist auch seine Lunge, weshalb es in der Vergangenheit sehr schwierig war, für solche Patienten ein passendes Organ zu finden. Sie starben uns am häufigsten von der Warteliste weg”, sagt Strüber. „Seit Kurzem aber können wir die Lungenlappen maßschneidern.” Dafür werden sie einfach zerschnitten und auf passende Größe vernäht. Bislang haben die Hannoveraner Ärzte schon 75-mal einen Lungenlappen zurechtgestutzt – meistens für Kinder. „Das funktioniert sehr gut” , sagt Strüber.
Alles Übrige ist Routine. Weltweit werden etwa 1500 Lungentransplantationen pro Jahr durchgeführt. Dabei wird unterhalb der Brust ein Schnitt gesetzt, die Lungenarterien und die -venen werden abgeklemmt und das alte Organ herausgeholt. „ Von außen sieht die Lunge eines Mukoviszidose-Patienten nicht ungewöhnlich aus, aber im Inneren ist sie voll von Ausbeulungen in den Atemwegen, die mit zähem, eiterigem Sekret gefüllt sind. Eine solche Lunge taugt nichts mehr”, kommentiert Strüber. Der neue Lappen wird eingesetzt, an die Luftröhre angenäht, die Lungenschlagadern werden verbunden und schließlich die Lungenvenen an den linken Herzvorhof angeschlossen. Dann wird die Lunge wieder mit Blut durchspült. Das Organ bläht sich sanft auf, wenn die Luft zum ersten Mal hineinflutet. Nach vier Stunden ist der Eingriff vorüber.
Als Simon S. aus der Narkose erwacht, fühlt er sich noch sehr benommen. Seine Stimme klingt heiser, und das Atmen strengt an. „ Sie haben ein Bilderbuch-Organ bekommen”, muntert ihn Strüber auf. Simons Körper wird sich erst langsam daran gewöhnen, dass er wieder richtig mit Luft versorgt wird. Wichtig ist, dass gleich mit der Nachbehandlung begonnen wird. Sie entscheidet maßgeblich über den Erfolg und die Überlebenschancen. Ein Jahr nach der Lungentransplantation leben heute im Schnitt noch 85 Prozent der Transplantierten. Doch Simon S. wird sein Leben lang Medikamente zur Unterdrückung des Immunsystems nehmen müssen, die eine Abstoßung des fremden Organs verhindern.
Ohne Arzneimittel würden sich die körpereigenen Abwehrzellen, die Lymphozyten, vehement gegen das fremde Gewebe wehren. Die Lymphozyten bilden Antikörper, die das neue Organ pausenlos angreifen. Es wird so lange torpediert, bis es derart geschwächt ist, dass weiße Blutkörperchen es endgültig zerstören. Die Folge dieser erbitterten Immunschlacht ist eine lebensgefährliche Abstoßung des lebensrettenden Transplantats. Um das zu verhindern, muss das Immunsystem dauerhaft in Ketten gelegt werden.
Die älteste Arznei dafür ist das Pilzgift Cyclosporin. Die Substanz revolutionierte vor rund 30 Jahren die Transplantationsmedizin. Die Lebenserwartung der Transplantierten stieg unmittelbar um mehrere Jahre. Bis heute wird Cyclosporin häufig verschrieben. Doch die Unterdrückung der Immunabwehr ist ein zweischneidiges Schwert. „Sonst harmlose Bakterien, Pilze oder Viren können bei dem Organempfänger gefährliche Krankheiten hervorrufen. Und das Krebsrisiko ist durch die Immunsuppressiva erhöht”, sagt Martin. Dieses Risiko müssen alle Transplantierten in Kauf nehmen.
„Allerdings sind die Medikamente inzwischen deutlich besser geworden. Dadurch sind die Überlebenschancen gestiegen und die Nebenwirkungen geringer geworden”, ergänzt Martin. Üblicherweise werden die Transplantierten heute mit drei unterschiedlichen Wirkstoffen behandelt. Der Arzt wählt Medikamente aus insgesamt sechs Kategorien mit jeweils anderem Wirkprinzip aus, um eine maßgeschneiderte Therapie zusammenzustellen. Beispielsweise weiß man heute, dass Cyclosporin die Tumorbildung anregt, während das neue Medikament Rapamycin die Krebsentstehung unterdrückt. Daher werden Cyclosporin und Rapamycin manchmal gemeinsam verabreicht.
Große Hoffnungen richten sich auf jüngste Produktentwicklungen, unter anderem auf die Substanz FTY720. Sie wirkt auf völlig andere Weise als die üblichen Medikamente: Die Lymphozyten werden nicht dezimiert, sondern in die Lymphknoten zurückgedrängt. Sie werden quasi unter Hausarrest gestellt. Im Blut verbleiben nur rund 20 Prozent der Abwehrzellen. Ihre Patrouillen können den Körper vor Infektionen schützen, aber sie sind nicht zahlreich genug, um dem Transplantat zu schaden (bild der wissenschaft 2/2005, „Hausarrest für Immunzellen”). Der neue Wirkstoff schaltet das Immunsystem also nicht aus, sondern dirigiert es lediglich um.
„Dennoch wird es eine Therapie ohne Nebenwirkungen auf absehbare Zeit nicht geben”, beurteilt Martin. Es bleibt der Spagat zwischen dem Wunsch nach maximaler Lebenserwartung auf der einen Seite und möglichst wenig Risiken auf der anderen.
Diese Widrigkeiten sind die Dornen, die Simons Krankenschwester andeutete. Doch für Simon S. überwiegt in den Tagen nach der Operation die Freude, endlich wieder die Luft in seinem neuen Organ zu spüren. „Was sind all die Schmerzen, was ist all das Warten gegen das Gefühl, frei zu atmen”, sagt er zu seiner Frau am Telefon. In seiner Stimme klingt das Glück eines Menschen mit, dem ein zweites Leben geschenkt wurde. ■
Susanne Donner ist promovierte Chemikerin und freie Wissenschaftsjournalistin in Berlin. In bild der wissenschaft berichtete sie im September 2005 über künstliche Gene.
Susanne Donner
Ohne Titel
• 12 000 Patienten warten in Deutschland auf ein Spenderorgan.
• Künstliche Organe, die lebenslang funktionieren, sind nicht in Sicht.
• Die Niere ist bislang das einzige Organ, das über längere Zeit von einem Apparat ersetzt werden kann.
• Immer mehr Transplantate stammen von lebenden Spendern.
• Die Medikamente zur Verhinderung von Abstoßungsreaktionen sind wesentlich wirksamer geworden.
Ohne Titel
Transplantierte Organe in Deutschland 2005
Niere 2190
Leber 888
Herz 395
Lunge 262
Pankreas 165
Dünndarm 2
Über 3900 Organe von verstorbenen Spendern wurden 2005 verpflanzt. Zusätzlich zu diesen in der Tabelle aufgeschlüsselten Transplantationen wurden noch Organe aus Lebendspenden übertragen. 2004 waren es 489 Nieren- und 64 Lebertransplantationen.
Ohne Titel
1902: Erste Nierentransplantation bei einem Hund (Österreich).
1954: Erste erfolgreiche Nierentransplantation (USA) bei einem Menschen: Der 23-jährige Richard Herrick erhält die Niere seines eineiigen Zwillingsbruders. Herrick wird zweifacher Vater und stirbt acht Jahre später an Herzversagen.
1958: Entdeckung der für Abstoßungsreaktionen bedeutsamen Gewebefaktoren (Frankreich). Der Entdecker Jean Dausset erhält dafür 1980 den Nobelpreis für Medizin.
1963: Erste Lungentransplantation (USA): Allerdings stirbt der 58 Jahre alte Patient an den Folgen der Abstoßungsreaktion.
1967: Erste Herztransplantation (Südafrika): Christiaan Barnard pflanzt in Kapstadt dem 55 Jahre alten Louis Washkansky in einer fünfstündigen Operation das Herz von Deenise Ann Darvall ein, die wenige Stunden zuvor bei einem Verkehrsunfall gestorben ist.
1967: Erste erfolgreiche Lebertransplantation (USA).
1982: Durchbruch in der klinischen Behandlung der Organabstoßung (Schweiz): Das Pilzgift Cyclosporin der Basler Firma Sandoz verhindert Abstoßungen nach Transplantationen.
1984: Erste Teil-Lebertransplantation (Frankreich).
2001: Erste Implantation eines Kunstherzes (USA): Ein mechanisches Herz ersetzt das Organ vollständig. Es arbeitet eigenständig und benötigt keine Drähte und Schläuche nach außen.
2002: Erste Transplantation einer Gebärmutter (Saudi-Arabien).
2004: Erste so genannte ABO-inkompatible Nierenlebendspende (Deutschland): Ein 62 Jahre alter Mann erhält eine Niere seiner Frau, obwohl beide unterschiedliche Blutgruppen haben.
2005: Erfolgreiche Transplantation eines Eierstockes (Israel): Eine Patientin, deren Eierstöcke durch eine Chemotherapie zerstört wurden, erhält eingefrorenes Eierstockgewebe. Sie bringt noch im selben Jahr ein gesundes Mädchen zur Welt.