Seit dem 2. November gilt in Deutschland ein vierwöchiger „Lockdown Light“. Damit soll der rasche Anstieg der Covid-19-Fallzahlen gestoppt werden. Doch wie geht es danach weiter? Anhand mathematischer Modelle, die während der ersten Covid-19-Welle entwickelt wurden, haben Forscher nun mögliche Szenarien für den weiteren Verlauf der Pandemie bis ins Frühjahr 2021 simuliert. Ein einzelner Lockdown im November ist demzufolge nicht ausreichend, um das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu halten.
Um die zweite Welle der Covid-19-Infektionen zu bremsen, gilt in Deutschland bis Ende November ein „Lockdown Light“: Gastronomiebetriebe und Freizeiteinrichtungen sind geschlossen, Kulturveranstaltungen fallen aus, Treffen von mehr als zehn Personen sind verboten. Geöffnet bleiben dagegen Schulen und Kindergärten, ebenso wie Friseure und Einkaufsläden. Ziel der Maßnahmen ist es, die Zahl der Neuinfektionen soweit zu senken, dass die Gesundheitsämter bei der Kontaktverfolgung wieder hinterherkommen. Zudem soll eine Überlastung der Intensivstationen durch zu viele schwerkranke Covid-19-Patienten vermieden werden. Reichen diese Maßnahmen aus, um die zweite Welle zu stoppen und eine dritte zu verhindern? Oder werden weitere Einschränkungen notwendig?
Weitere Entwicklung simuliert
Das hat ein Team um Jan Fuhrmann vom Forschungszentrum Jülich und Maria Barbarossa vom Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) nun mit mathematischen Simulationen untersucht. Das Ergebnis der Forscher: Würden nach dem vierwöchigen Lockdown alle Einschränkungen aufgehoben, käme es im Verlauf des Winters sehr wahrscheinlich zu einer dritten, deutlich stärkeren Covid-19-Welle. Weitere kurzzeitige „Wellenbrecher-Lockdowns“ dagegen könnten helfen, die Infektionszahlen zu kontrollieren und eine Überlastung der Intensivstationen zu verhindern. Alternativ wären den Simulationen zufolge auch dauerhaft geltende, weniger einschränkende Maßnahmen geeignet, um die Ausbreitung des Virus so weit zu drosseln, dass die Versorgung aller Patienten gewährleistet bleibt.
„Unsere langfristigen Szenario-Modellierungen sind qualitativ zu verstehen und beanspruchen nicht, den realen Verlauf exakt vorherzusagen“, sagt Fuhrmann. „Die Szenarien zeigen aber gut auf, wie sich die Epidemie unter verschiedenen Maßnahmen entwickeln würde. Wir betonen, dass die in den Simulationen vorhergesagten, teils sehr hohen Fallzahlen nur dann eintreten, wenn entsprechende weitere, zur Eindämmung notwendige Maßnahmen nicht getroffen werden. Das wären zum Beispiel lokal begrenzte Shutdown-Perioden, die in den Szenarien bisher nicht berücksichtigt werden.“
Kontaktrate als Maßstab
Konkrete politische Maßnahmen empfehlen die Forscher auf Basis ihrer Daten nicht. Da bislang in der Regel eine Kombination verschiedener Maßnahmen eingesetzt wurde, ist es schwierig, den Effekt einzelner Maßnahmen zu bewerten. Ein Unsicherheitsfaktor ist zudem, wie sich die Bevölkerung in Reaktion auf die Fallzahlen und politischen Vorgaben verhält. Ihren Simulationen legen die Forscher daher unterschiedlich starke Kontaktreduktionen zugrunde, ohne näher zu spezifizieren, wie diese zu erreichen sind.
Als Referenzwert für die Kontaktrate nutzen sie den Spätsommer 2020, als die Fallzahlen niedrig waren und nur wenige Einschränkungen galten. Eine Begrenzung auf 35 Prozent dieser Kontakte definieren die Forscher als „Soft Shutdown“, eine Reduktion auf 25 Prozent als „Strong Shutdown“ und eine Beschränkung auf 15 Prozent als „Severe Shutdown“. Auch für Szenarien ohne Shutdown gehen sie davon aus, dass sich die Kontaktrate während des Winters auf etwa 60 Prozent des Spätsommerwertes reduziert. Den aktuellen „Lockdown Light“ ordnen sie zwischen einem „Soft Shutdown“ und einem „Strong Shutdown“ ein.
November-Shutdown reicht nicht aus
Auf dieser Grundlage haben die Forscher vier beispielhafte Szenarien ausgearbeitet. Ohne den Shutdown im November wären die Neuinfektionen im Januar voraussichtlich auf über 100.000 im Sieben-Tages-Mittel gestiegen. Zeitweise wären bis zu 35.000 Intensivbetten erforderlich gewesen. Gemäß dem DIVI-Intensivregister, das die Kapazität der deutschen Intensivstationen erfasst, stehen derzeit insgesamt nur rund 28.000 Betten zur Verfügung, von denen aktuell etwa 18.000 mit anderen Patienten belegt sind. Rund 3.000 Covid-19-Patienten werden derzeit (Stand 10.11.2020) bundesweit auf Intensivstationen behandelt.
Der aktuelle Shutdown kann den massiven Anstieg der Infektionen zwar verzögern, aber nicht verhindern, wie die Berechnungen der Forscher zeigen. Wenn keine weiteren Maßnahmen folgen, ist demnach im Februar und März 2021 mit etwa 70.000 täglichen Neuinfektionen zu rechnen und es würden zeitweilig über 20.000 Intensivbetten für Covid-19-Patienten benötigt. Ausklingen würde diese dritte Welle den Simulationen zufolge erst im Mai 2021.
Weitere Lockdowns oder langfristige Maßnahmen
Ein oder zwei zusätzliche „Wellenbrecher-Lockdowns“ von jeweils zwei Wochen könnten dagegen die Fallzahlen erheblich drücken. Je nach Zeitpunkt und Stärke der Lockdowns könnten die täglichen Neuinfektionszahlen bei unter 40.000 gehalten werden, wobei der Höhepunkt der Pandemiewelle im Februar oder März erreicht würde. Die Anzahl benötigter Intensivbetten könnte unter 10.000 bleiben.
Als Alternative zu kurzfristigen, starken Einschränkungen kommen laut den Forschern dauerhafte Kontaktbeschränkungen ohne Shutdown in Frage. Konsequent umgesetzt könnten auch diese die Zahl der benötigten Intensivbetten unter 10.000 halten. Besonders wirksam wäre den Simulationen zufolge eine Kombination langfristiger Maßnahmen mit kurzzeitigen Shutdowns.
Quellen: Forschungszentrum Jülich, DIVI-Intensivregister