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CONTERGAN, VIOXX UND CO – PASSIERT DAS IMMER WIEDER?

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

CONTERGAN, VIOXX UND CO – PASSIERT DAS IMMER WIEDER?
Arzneimittel sind heute sicherer denn je, doch noch längst nicht sicher genug. Es gibt bewährte Prüfinstrumente – sie werden nur nicht eingesetzt.

Der Versuch erfordert ein wenig Fingerspitzengefühl: Man entferne die Schale von einem rohen Hühnerei und träufle Substanzen auf den freiliegenden Hühnerembryo. Etwa auf den Miniflügel, wie es eine Gruppe um Neil Vargesson von der University of Aberdeen unlängst vorexerzierte. Substanz CPS49 wirkte: Schon zwei Stunden nach der Applikation schrumpften die zarten Blutgefäße im Flügel, einen Tag später zeigte der Flügel Anzeichen schwerer Verstümmelung.

Ein leidiger Tierversuch mehr? Keineswegs. CPS49 ist ein Derivat von Thalidomid – besser bekannt als Contergan. Die Arbeit der Briten, vorgestellt im Mai 2009, hilft, die Contergan-Katastrophe der Jahre 1957 bis 1961 zu erklären. „ Thalidomid beeinträchtigt das Wachstum von Gefäßen, solange sie noch ganz jung sind”, erklärt Vargesson. Das könnte ein Grund sein, warum das Mittel seinerzeit das Wachstum von Armen und Beinen bei vielen Ungeborenen behindert hat. Die Erklärung für die Contergan-Schäden schlechthin ist das aber nicht. Dutzende von Hypothesen haben Forscher bis heute präsentiert. Anfang 2010 meinten japanische Wissenschaftler, auch die Blockade eines körpereigenen Proteins namens Cereblon durch Thalidomid könnte eine Rolle spielen. Bis heute sind die genauen biochemischen Ursachen der wohl größten Katastrophe der Arzneimittelgeschichte unverstanden (siehe Kasten auf S. 30 „Der Contergan-Skandal” ).

Vorsichtiger Optimismus

Keine Frage: Medikamente retten vielen Menschen das Leben, Medizin ist ohne sie undenkbar. Und doch: Sind wir heute, knapp 50 Jahre nach der Marktrücknahme von Contergan, vor einer Wiederholung geschützt? Die Experten sind vorsichtig. „Ja, in der Form wird sich das nicht wiederholen”, meint zum Beispiel Ulrich Hagemann vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Ähnlich sieht man es beim Pharmakovigilanz- und Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie in Berlin. „Wir haben in den letzten 20 Jahren keine zuvor total unbekannte Wirkung wie bei Contergan gesehen”, sagt Leiter Christof Schaefer. Aber das bedeute nicht, dass es keine Probleme gebe, fügt der Experte rasch hinzu. Jedes Jahr kommen in Deutschland Kinder mit Schäden zur Welt, weil ihre Mütter gefährliche Mittel nicht rechtzeitig abgesetzt haben. Valproinsäure etwa, ein Mittel gegen Epilepsie, führt bei Ungeborenen zu Missbildungen. ACE-Hemmer und Sartane, wichtig gegen Bluthochdruck, können die Nieren von Feten in der zweiten Schwangerschaftshälfte so stark schädigen, dass den Kindern nach der Geburt nur noch die Dialyse hilft.

Alle diese Mittel tragen entsprechende Warnhinweise in Fachinformation und Packungsbeilage. Und ein rechtzeitiger Wech- sel solcher Mittel vor einer Schwangerschaft ist fast immer möglich – wenn die Frauen und ihre Ärzte aufgeklärt sind. Schaefer: „Wir haben da ein Kommunikationsproblem.” Das ist der wesentliche Unterschied zu Contergan 1961: Viele Medikamentenschäden heute sind Schäden, die man kennt. Sie ließen sich bei richtiger Anwendung vermeiden (siehe dazu auch das Interview auf S. 34 „Uns fehlt die Abstimmung”).

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„Keine Wirkung ohne Nebenwirkung” ist ein Mantra der Pharmakologie. Als – wenn auch späte – Folge von Contergan trat in Deutschland 1978 das Arzneimittelgesetz in Kraft. Heute muss eine Firma zunächst im Labor mit Testbatterien, einschließlich Tierversuchen, die Sicherheit eines potenziellen neuen Wirkstoffs belegen. Die Zulassung für den Markt bekommt Jahre später nur, wer den Behörden – in Deutschland dem BfArM und dem Paul-Ehrlich-Institut, immer häufiger aber der europäischen EMA (European Medicines Agency) – mit Daten aus klinischen Studien die Unbedenklichkeit, die Qualität und die Wirksamkeit des Mittels nachweist. Fast 62 000 Medikamente sind in Deutschland zugelassen.

VOM MARKT VERSCHWUNDEN

Allerdings bieten Studien, bestenfalls an einigen Tausend Patienten ausgeführt, keine Chance, seltene Nebenwirkungen zu entdecken. Arzneimittelsicherheit ist somit ein fortlaufender Prozess: Solange der Nutzen eines Mittels für viele das Risiko für wenige übersteigt, lassen die Behörden es am Markt. Ulrich Hagemann betont: „Hersteller sind verpflichtet, stets alles für ein positives Nutzen-Schaden-Verhältnis ihres Mittels zu tun, und es bei Verdacht auf nicht vertretbare Risiken vom Markt zu nehmen.” Das tun sie auch. Der Cholesterin-Senker Lipobay, der Blutungshemmer Trasylol, der Appetitzügler Acomplia und andere: Zwei Dutzend, teils mit pompösem Werbeetat eingeführte Mittel sind seit Mitte der 1990er-Jahre in den USA und der EU wieder vom Markt verschwunden.

Zum Paradebeispiel avancierte das Schmerzmittel Rofecoxib, Handelsname Vioxx, das der Konzern Merck 2004, fünf Jahre nach der Zulassung, vom Markt nahm. Verglichen mit älteren Schmerzmitteln wie Aspirin oder Diclofenac war das neue „ Super-Aspirin” mit einem geringeren Risiko für gefährliches Magenbluten verbunden. Erst 2004 zeigte eine Studie aber ein höheres Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall. Allein in den USA könnte Vioxx bis zu diesem Zeitpunkt 140 000 zusätzliche schwere Herzerkrankungen verursacht haben. In Deutschland schätzt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) 7000 schwere Schädigungen. Und erst im Juni 2010 forderte die US-Behörde FDA (Food and Drug Administration) Pfizer auf, das Mittel Mylotarg vom Markt zu nehmen. Denn zehn Jahre nach der Zulassung haben Studien belegt, dass es Leukämie-Patienten keinen Nutzen bringt, sondern die Todesrate sogar erhöht.

Nach solchen Marktrücknahmen kommt es fast immer zu Gerichtsprozessen. Der Streit tobt dann um die Frage, ob Hersteller und Behörden schon länger von Risiken gewusst und diese verschwiegen haben (siehe Kasten auf S. 33 „Die rechtliche Seite”). Zugleich ist klar: Etliche Instrumente, die helfen könnten, unbekannte Risiken früher zu entdecken, sind wissenschaftlich etabliert, werden aber nur schleppend in die Praxis umgesetzt. Die Arzneimittelsicherheit könnte zweifellos besser sein, als sie derzeit ist.

Das beginnt bei der Überwachung der Mittel am Markt, der Pharmakovigilanz. Grundlage ist ein Spontanmeldesystem: Hersteller sind gesetzlich verpflichtet, den Zulassungsbehörden zu melden, wenn sie einen Verdacht auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) hegen. Ärzten und Apothekern gebietet das ihr Berufsrecht. Gut 46 000 Verdachtsmeldungen aus dem In- und Ausland liefen 2008 beim BfArM ein. Knapp 20 000 Meldungen zumeist schwerwiegender Nebenwirkungen kamen aus Deutschland, bei 1627 Menschen waren die Nebenwirkungen tödlich. Doch die Zahlen haben keine Aussagekraft, denn die Meldungen sind nicht repräsentativ: Ärzte melden vielleicht drei bis fünf Prozent aller tatsächlichen UAW. „Wir wissen nicht, wie viele Menschen in Deutschland an Arzneimittelschäden sterben”, erklärt Ulrich Hagemann.

Und auch für die Entscheidung „Hat ein Mittel bisher unbekannte Risiken? Muss es gar vom Markt?” taugt das System kaum. Dafür fehlt der Zahl der Nenner: Behörden müssten die Zahl derer, die einen Schaden durch ein Medikament erleiden, ins Verhältnis setzen zu der Zahl derer, die dieses Mittel gerade einnehmen. Nur so lässt sich das Verhältnis Nutzen zu Risiken bewerten. Beispiel Vioxx: „Wir hatten frühzeitig, schon im Jahr 2000, Hinweise auf mehr Herzinfarkte”, erinnert sich Ulrich Hagemann. Doch seine Behörde konnte den Verdacht nicht erhärten. „ Wir mussten bis 2004 auf die Ergebnisse weiterer kontrollierter Studien warten, die der Hersteller machte.”

Aber so lange muss es in Zukunft nicht dauern – vorausgesetzt, jemand wertet fortlaufend sogenannte Routinedaten aus. Landauf, landab sammeln Apotheken-Rechenzentren, Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen jedes Rezept, jede Diagnose und jede Therapie von jedem Versicherten. „Diese Daten sind ein Fundus, um bei Verdacht auf neue Risiken rasch zu klären, ob und wie viele Menschen, die ein Mittel gerade einnehmen, tatsächlich an einer UAW leiden”, erklärt Edeltraut Garbe vom Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin. Ihre Gruppe hat über vier Kassen Zugriff auf Routinedaten von 14 Millionen gesetzlich Versicherten. Routinedaten stehen mit rund einem Jahr Verzögerung zur Verfügung. „Probleme wie bei Vioxx könnten wir daher etwa binnen Jahresfrist dingfest machen”, erklärt Garbe. Allerdings sei dies keine Aufgabe für ein Forschungsprojekt. Garbe fordert: „ Der Staat muss endlich festlegen, welche Stelle im Gesundheitssystem das offiziell macht.”

Und es gibt noch eine strategische Lücke. Für die Zulassung reicht einer Firma meist der Nachweis, dass ihr neues Mittel wirksamer ist als ein Placebo oder ein etabliertes Präparat. Bei sehr vielen Indikationen sind daher heute mehrere Wirkstoffe oder gar Wirkstoffgruppen am Markt, die aber nie miteinander verglichen wurden. „Wir leisten uns den gefährlichen Luxus, den eigentlichen Stellenwert von Therapien nicht zu kennen”, erklärt Peter Sawicki, bis August 2010 Leiter des IQWiG. Das Institut in Köln bewertet unabhängig von den Zulassungsbehörden den medizinischen Nutzen von Diagnosen und Therapien. „Wir brauchen für solche Vergleichsstudien einen Fonds, in den Hersteller, Kassen und Staat Gelder geben”, fordert Sawicki.

HILFT EIN NEUES GESETZ?

Immerhin: Mit einem Ende Juni 2010 vorgelegten Gesetzentwurf will die Bundesregierung erreichen, dass Firmen bei Medikamenten mit neuen Wirkstoffen künftig schon bei der Zulassung ein Dossier vorlegen, in dem sie einen erwarteten Zusatznutzen für den Patienten genau beschreiben – als erste Grundlage für die Kosten-Nutzen-Bewertung durch den „Gemeinsamen Bundesausschuss”, der darüber entscheidet, was gesetzliche Krankenkassen bezahlen. Das Verfahren könnte auch die Sensibilität für Nebenwirkungen schärfen, die sich erst nach Markteinführung zeigen. Obendrein will Berlin erstmals Hersteller verpflichten, Zusammenfassungen der Ergebnisse klinischer Prüfungen zu veröffentlichen. Bislang ist davon oft nur ein Teil – meist jener mit den positiveren Ergebnissen – in Fachpublikationen nachzulesen.

Zugleich fordern immer mehr Experten, alle Daten aus klinischen Studien öffentlich zu machen. Der größte Teil dieser Daten liegt den Zulassungsbehörden vor, bleibt dort aber meist unter Verschluss (siehe Kasten S. 33 „Die rechtliche Seite”). „ Wir wollen Rohdaten – jetzt”, titelte das British Medical Journal Ende 2009. Kurz zuvor hatten sich Forscher der Cochrane Collaboration beschwert, dass ihnen der Hersteller Roche die Daten aus Studien vorenthalte, die sie im Detail prüfen wollten, um das Grippemittel Tamiflu zu bewerten. Bei solchen Meta-Analysen geht es darum, Daten aus vielen Studien zu einer bestimmten Substanz gemeinsam zu sichten, um auch seltenen Effekten auf die Spur zu kommen. Die Gruppe wertete den Nutzen von Tamiflu mangels Daten kurzerhand ab.

ALLE DATEN ÖFFENTLICH

In den USA sind Firmen seit Mitte 2009 per Gesetz verpflichtet, Zusammenfassungen von Ergebnissen aller neuen Studien in eine öffentliche Datenbank einzustellen (www.clinicaltrials.gov). „Das ist ein großer Fortschritt in den USA”, meint Ursula Gundert-Remy von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AkdÄ). Dennoch stellt auch sie fest: „ Wir brauchen in den USA wie in Europa eine gesetzliche Regelung, dass zumindest Fachgremien wie die AkdÄ Zugang zu den kompletten klinischen Daten erhalten.”

Dabei könnte die neue Transparenz, sozusagen als erwünschte Nebenwirkung, auch die Forschung in den Laboren der Industrie beflügeln. Dort vollzieht sich gerade ein radikales Umdenken. Polypharmakologie lautet das Modewort. „Das Konzept, einen Wirkstoff zu erfinden, der gezielt gegen eine einzige Substanz im menschlichen Körper wirkt, ist überholt”, erklärt der Bioinformatiker Josef Scheiber, der 2009 bei Novartis Ansätze für Alternativen entwickelte. Tatsächlich gibt es kaum Substanzen, die nach dem Eins-zu-Eins-Prinzip arbeiten.

Den Wirkstoff Thalidomid etwa baut der Organismus in Dutzende Folgeprodukte um – doch an welchen Zielmolekülen jedes davon andockt, ist bis heute großenteils unklar. Der Computer kann helfen. Alle großen Pharmakonzerne unterhalten Abteilungen, die ihre Rechner mit allem füttern, was über die Biochemie des Körpers und die Chemie von Wirkstoffen bekannt ist. Scheibers Gruppe ließ den Rechner eine Art Verwandtschaftsgrad für 4210 Nebenwirkungen kalkulieren. Ausgelöst werden sie von 1842 Arzneimitteln. Die Daten stammen aus einer großen kommerziellen Datenbank. Das Ergebnis der Analyse ist eine Art Stammbaum von Nebenwirkungen.

Erstmals werden jetzt die molekularen Beziehungen sichtbar: Häufig sind es ähnliche Teilstrukturen in den Wirkstoff-Molekülen, die zu ein und derselben Nebenwirkung führen. Allerdings können manchmal auch komplett unterschiedliche Wirkstoffe den gleichen Stoffwechselweg im Körper blockieren. Solche neu gefundenen Ordnungen im riesigen UAW-Spektrum erlauben es heute eher, allein aus der Struktur einer Verbindung auf ihr Nebenwirkungsprofil zu schließen.

WARNUNG AUS DEM COMPUTER

Unser Stoffwechsel, die Blutdruckregulation, der Fettabbau – all das lässt sich im Rechner simulieren, wenn auch noch rudimentär. So kann manches Risiko, das sich früher erst nach jahrelanger klinischer Erprobung fand, künftig früher aufgespürt werden. Wie, das zeigte Anfang 2009 eine Gruppe um Philip Bourne von der University of California. Ende 2006 hatte der Konzern Pfizer eine Phase III-Studie mit dem Wirkstoff Torcetrapib abbrechen müssen. Das Mittel sollte zu hohe Cholesterinwerte senken. Die senkte die Substanz auch, doch die Rate der Todesfälle schnellte trotzdem nach oben. Die Computersimulation der Bourne-Gruppe fand den Grund: Torcetrapib greift in die hormonelle Regulation des Blutdrucks ein und erhöht ihn. Solche Analysen sind aussagekräftiger als der bisherige Standard der Toxikologie, der Tierversuch.

Der hatte bei Contergan versagt. Heute sind die Versuchsreihen auch hier ausgefeilter: Bei Kaninchen, heute Teil der Routineprüfungen, zeigen sich die Contergan-Schäden. Doch zuverlässig ist das nicht: Bei maximal 60 Prozent aller Chemikalien und Pharmaka sind Daten aus Ratte, Maus und Kaninchen von einer Art auf die andere – und somit auch auf den Menschen – übertragbar. Chemische Testbatterien, Versuche an Zellkulturen im Verbund mit Computersimulationen sind nach Ansicht vieler Experten zuverlässiger. „Wir müssen für diese Methoden dringend Standards entwickeln, die einen Einsatz in der Toxikologie erlauben”, fordert Thomas Hartung von der Johns Hopkins University in Baltimore.

CONTERGAN JETZT GEGEN LEPRA

Klar ist: 100 Prozent Sicherheit gibt es auch hier auf absehbare Zeit nicht. „Wir sind nur so gut wie die Daten, mit denen wir unsere Computer füttern können”, erklärt Josef Scheiber. Ein öffentliches Verzeichnis, das möglichst alle Daten über bekannte Nebenwirkungen aus klinischen Studien enthält, wäre ein Fortschritt. Doch bislang: Fehlanzeige.

Contergan ist übrigens zurück: Seit 2008 ist Thalidomid in der EU gegen die Krebserkrankung Multiples Myelom zugelassen. Und in vielen Ländern ist das Mittel gegen Lepra im Einsatz, unter strengen Auflagen für Schwangere. Auch in Brasilien. Und doch werden dort bis heute Kinder mit Missbildungen geboren – weil die Mütter den Beipackzettel nicht lesen können. ■

BERNHARD EPPING, Biologe und Wissenschaftsjournalist, fordert: Auch Patienten sollten sich über Nebenwirkungen von Medikamenten informieren.

von Bernhard Epping

MEHR ZUM THEMA

INTERNET

Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft gibt umfangreiche Patienteninformationen zur Arzneimitteltherapie: www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/ Patientenratgeber/index.html

Patienteninformationen beim IQWIG: www.gesundheitsinformation.de/

Aktionsbündnis Patientensicherheit: www.aktionsbuendnis-patientensicherheit.de

Beratung für Schwangere: www.embryotox.de/

Behandlung bei Krebs: www.krebsinformationsdienst.de/themen/behandlung/index.php

KOMPAKT

· Nur ein kleiner Teil der Arzneimittelschäden, zu denen es in Deutschland kommt, wird den Behörden gemeldet.

· Eine Auswertung von Daten der Krankenkassen, Apotheken und Kassenärztlichen Vereinigungen könnte helfen, Medikamente sicherer zu machen.

· Experten fordern außerdem, die Daten aus klinischen Studien vollständig offen zu legen.

„Uns fehlt die Abstimmung”

Frau Thürmann, was sind die wichtigsten Warnzeichen dafür, dass Patienten an unerwünschten Arzneimittelwirkungen leiden?

Das Problem betrifft vor allem ältere Menschen. Wenn es bei ihnen plötzlich zu Verwirrtheit kommt, sollten die Angehörigen mit dem Arzt prüfen, ob nicht ein neu verordnetes Mittel dahinter steckt. Ich möchte das Problem aber nicht in erster Linie an Symptomen festmachen.

Sondern?

Ärzte sollten immer an die Möglichkeit unerwünschter Arzneimittelwirkungen denken. Bevor man gerade einen älteren Menschen wegen Magenblutungen, Verwirrtheit oder einer Hepatitis durch die diagnostische Mühle dreht, sollte man prüfen, welche Mittel er einnimmt, welches Nebenwirkungsprofil sie haben und ob die Dosierungen stimmen.

Warum?

Viele ältere Herrschaften nehmen fünf, zehn und mehr Mittel ein. In Altersheimen finden wir Spitzenreiter mit 17 verschiedenen Arzneimitteln am Tag. Doch mit jedem Mittel steigt das Risiko für gefährliche Wechselwirkungen.

Womöglich sind die Mittel aber wichtig?

Ja, doch vielleicht nicht alle. Das Problem ist, dass zu viele Ärzte allein auf ihr Fachgebiet schauen. Der Kardiologe, der Diabetologe, der Neurologe … Wenn jeder Spezialist nach seiner Leitlinie verordnet, sind wir rasch bei zehn Mitteln. Uns fehlt die Abstimmung, eine Leitlinie, die vorschlägt, was man weglassen kann.

Was kann der Patient tun?

Suchen Sie sich einen Hausarzt, der mit Ihnen einmal im Jahr die komplette Medikation durchgeht.

Die rechtliche Seite

Wann Hersteller haften, legt Paragraph 84 des Arzneimittelgesetzes (AMG) fest: Risiken und Nebenwirkungen, vor denen in Fachinformation und Packungsbeilage gewarnt wird, sind kein Haftungsgrund. Verschwindet ein Wirkstoff dagegen aufgrund neuer Daten wieder vom Markt, haften Hersteller prinzipiell auch im Nachhinein für die „Unvertretbarkeit” der Substanz.

Kläger müssen dann vor hiesigen Gerichten seit 2002 nicht mehr nachweisen, dass ein Schaden tatsächlich durch die Einnahme eines Arzneimittels verursacht wurde – was wissenschaftlich meist gar nicht möglich ist. Vielmehr genügt es darzulegen, dass man ein Mittel nach Vorschrift genommen hat, und dass es den Schaden verursachen konnte.

Trotzdem reicht das nicht immer. „Geht es zum Beispiel um einen Herzinfarkt und Sie haben Übergewicht, hat eine Klage kaum Aussichten”, weiß der Berliner Rechtsanwalt Jörg Heynemann. Die Gegenseite wird dann vermutlich anführen, dass das Übergewicht der entscheidende Risikofaktor für den Infarkt war. Die Chancen steigen, wenn der Nachweis gelingt, dass der Hersteller Risiken verschwiegen hat.

Dabei kommen Bürger in den USA nach dem „Freedom of Information Act” über Behörden oft schneller an firmeninterne Unterlagen als in Deutschland. Beispiel Vioxx: Einige in den USA über Behörden öffentlich gewordene Dokumente deuten die Möglichkeit an, dass Mitarbeiter von Merck lange vor 2004 Herz-Kreislauf-Risiken von Vioxx diskutierten. In den USA bot Hersteller Merck 2007 rund 50 000 Klägern einen Vergleich an und stellte dafür 4,85 Milliarden US-Dollar zur Verfügung. Hierzulande schätzt Heynemann die Zahl noch anhängiger Klagen wegen Vioxx auf 250.

In Deutschland gelingt es Klägern bislang nur mühsam, von einem im AMG festgelegten Auskunftsrecht bei Firmen und Be-hörden Gebrauch zu machen. Denn das Recht auf Auskunft nach dem § 84 a des AMG erlischt sofort, wenn „Angaben aufgrund gesetzlicher Bestimmungen geheim zu halten sind”. Auch der für jeden Bürger geltende Auskunftsanspruch nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IfG) erlischt dort, wo Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse betroffen sind. Der Streit um Einsicht in oder Herausgabe von Akten landet dann oft vor Gericht.

DER CONTERGAN-SKANDAL

Die Stolberger Firma Grünenthal verkaufte Thalidomid unter dem Handelsnamen Contergan ab 1957 in insgesamt 46 Ländern – darunter Westdeutschland, der Schweiz und Österreich. Es sollte unter anderem gegen Nervosität und Schlafstörungen helfen. Die Wirkungen am Menschen hatte man nur zufällig entdeckt, eine klinische Prüfung vorab gab es nicht. Auch die Tierversuche, damals nur wenige, lieferten keine Hinweise auf Gefahren. Wohl berichteten einige Ärzte bald von Missbildungen bei Neugeborenen. Doch erst am 19. November 1961 überführte der Humangenetiker Widukind Lenz Contergan als Ursache. Ende November 1961 nahm Grünenthal die Substanz vom Markt.

Weltweit kamen an die 10 000 Kinder mit deformierten Armen und Beinen zur Welt, eine unbekannte Zahl starb vor der Geburt. Gut 2700 Betroffene erhalten heute in Deutschland eine Rente und seit 2009 aufgestockte Sonderzahlungen aus einem Fonds, den Bundesregierung und Grünenthal finanzieren. Die Firma stellt die Substanz heute nicht mehr her.

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