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Chimäre Gehirne

Gesundheit|Medizin

Chimäre Gehirne
Mäusegehirn
Hippocampus einer Maus mit Rattenzellen (rot) sowie angefärbten Zellkernen beider Arten (blau). © M. Khadeesh Imtiaz/ Columbia University Irving Medical Center

Unabhängig voneinander haben zwei Forschungsteams Mäuse mit einem chimären Gehirn aus Mäuse- und Rattenzellen gezüchtet. Die artfremden Rattenzellen entwickelten sich im Mäusegehirn zu funktionsfähigen Neuronen, die mit den murinen Nervenzellen kommunizierten und zuvor zerstörte Hirnstrukturen und Funktionen wiederherstellten. Diese Grundlagenforschung könnte damit Wege eröffnen, neurologische Krankheiten besser zu verstehen und zu therapieren oder menschliche Organe in Tieren zu züchten.

In der Mythologie sind Chimären meist gefährliche Ungeheuer, vor denen man sich lieber in Acht nehmen sollte. Für die Wissenschaft dagegen bietet die Forschung an Mischwesen aus verschiedenen Tierarten vielversprechende Perspektiven. Künstlich erzeugte Chimären eröffnen nicht nur neue Einblicke in die Entwicklungsbiologie, sondern können auch medizinisch relevante Erkenntnisse liefern. Ein Forschungsziel ist beispielsweise, menschliche Organe in Spendertieren wie Schweinen zu züchten. Für viele Felder der Chimärenforschung gibt es allerdings ethische Bedenken. Das gilt insbesondere im Bereich des Gehirns.

Mäuse-Ratten-Mischwesen

Erstmals haben nun zwei Forschungsteams tatsächlich Tiere mit chimären Gehirnen erzeugt. Unabhängig voneinander sorgten sie jeweils bei Mäuseembryos dafür, dass diese bestimmte Gehirnstrukturen nicht selbst ausbilden konnten. Die dadurch entstehenden Lücken füllten sie mit Stammzellen von Ratten, die sie in die wenige Tage alten Mäuseembryos im Blastozystenstadium injizierten. Dieses als Blastozysten-Komplementierung bezeichnete Verfahren bietet den Vorteil, dass die artfremden Zellen eine Nische haben, in der sie sich entwickeln können, ohne mit eigenen Zellen des jeweiligen Tieres in Konkurrenz zu treten.

Ein Team um Jia Huang vom University of Texas Southwestern Medical Center in Dallas hat die Mäuse für die Versuche so manipuliert, dass ihnen das Gen für die Ausbildung des Vorderhirns fehlt. Nachdem sie Rattenstammzellen in die Mäuseblastozysten injiziert hatten, entwickelten die Tiere tatsächlich ein funktionsfähiges Vorderhirn – aus Rattenzellen. „Das artfremde Rattenvorhirngewebe in erwachsenen Mäusen war strukturell und funktionell intakt“, berichtet das Team.

Anpassung an den neuen Organismus

Obwohl Ratten eigentlich größere Gehirne haben als Mäuse, die sich zudem in einem anderen Tempo entwickeln, passten sich die Stammzellen offenbar in Größe und Entwicklungsgeschwindigkeit dem Mäusegehirn an. Zudem waren die Rattenneuronen in der Lage, Signale an die benachbarten Mäuseneuronen zu übertragen und umgekehrt. Ob sich die Mäuse auch „rattenartiger“ verhielten, konnten die Forschenden nicht feststellen. „Es fehlt an guten Verhaltenstests, um Ratten von Mäusen zu unterscheiden“, sagt Huangs Kollege Jun Wu. „Aber unser Experiment zeigt, dass sich die Mäuse mit Rattenstammzellen zumindest nicht ungewöhnlich verhalten.“

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Ein weiteres Forschungsteam widmete sich der Frage, inwieweit Rattenneuronen auch spezifische Funktionen im Mäusehirn wiederherstellen können. Dazu zerstörten Benjamin Throesch vom Scripps Research Institute in San Diego und seine Kollegen auf verschiedene Weise den Geruchssinn von Mäusen. Für eine Versuchsreihe sorgten sie durch genetische Veränderungen dafür, dass die entsprechenden Nervenzellen zwar entstehen können, aber nicht funktionsfähig sind – ein Modell für neurologische Entwicklungsstörungen. Für eine weitere Versuchsreihe wurden die entsprechenden Neuronen vollständig entfernt, ähnlich, wie es bei neurodegenerativen Krankheiten der Fall wäre.

Mäuse mit Ratten-Geruchssinn

Tatsächlich waren die Rattenstammzellen in der Lage, den Geruchssinn der Mäuse wiederherzustellen. So waren Mäuse mit chimärem Gehirn in der Lage, einen im Gehege versteckten Keks anhand seines Geruchs zu finden. Dabei zeigten sich allerdings Unterschiede zwischen den Tieren, bei denen die eigenen Geruchszellen nur stillgelegt worden waren und denen ohne eigene Geruchszellen. Rein strukturell betrachtet wirkte die entsprechende Hirnregion bei Mäusen mit stillgelegten Geruchszellen besser organisiert. Doch im Praxisversuch fanden die Mäuse, deren Geruchszellen komplett von der Ratte stammten, den Keks problemloser.

„Dieses wirklich überraschende Ergebnis ermöglicht es uns, die Unterschiede zwischen diesen beiden Krankheitsmodellen zu untersuchen und zu versuchen, Mechanismen zu identifizieren, die zur Wiederherstellung von Funktionen bei beiden Arten von Hirnerkrankungen beitragen könnten“, sagt Throeschs Kollegin Kristin Baldwin. „Wenn man einen funktionellen Ersatz haben will, muss man möglicherweise dysfunktionale Neuronen entfernen, was bei einigen neurodegenerativen Krankheiten und auch bei einigen neurologischen Entwicklungsstörungen wie Autismus und Schizophrenie der Fall sein könnte.“

Medizinische und ethische Perspektiven

Relevant könnte diese Erkenntnis zum Beispiel sein, um neue Therapien für neurologische Krankheiten zu erforschen. „Zurzeit laufen Versuche, bei denen Menschen mit Parkinson und Epilepsie Stammzellen und Neuronen implantiert bekommen“, erzählt Baldwin. „Aber wir wissen nicht wirklich, wie gut das funktionieren wird. Mit hybriden Hirnmodellen können wir anfangen, Antworten zu finden, und zwar schneller als in einer klinischen Studie.“

Aus Sicht von Rüdiger Behr vom Leibniz-Institut für Primatenforschung in Göttingen, der nicht an den Studien beteiligt war, bieten die beiden Veröffentlichungen vielversprechende Ansätze für weitere Forschungen. „Die beiden jetzt publizierten Arbeiten liefern meiner Einschätzung nach noch keinen konkreten Ansatz für neue therapeutische Herangehensweisen“, so Behr. „Sie tragen aber wesentlich zum naturwissenschaftlichen Fundament bei, auf dem neue Therapien langfristig aufgebaut werden können.“

Wichtig sei allerdings auch eine ethische Auseinandersetzung mit den potenziellen Auswirkungen der Chimärenforschung. „Bioethische Begleitforschung ist spätestens dann notwendig, wenn menschliche Embryonen als Empfänger in der Chimärenforschung eingesetzt werden sollten“, meint Behr. „Aber auch, wenn menschliche Stammzellen in tierische Embryonen transplantiert werden, was aus biomedizinischer Sicht sinnvoll sein kann, sollte ein biomedizinisch-bioethischer Diskurs erfolgen.“

Quellen: Jia Huang (University of Texas Southwestern Medical Center, Dallas, Texas) et al., Cell, doi: 10.1016/j.cell.2024.03.017; Benjamin Throesch (Scripps Research Institute, La Jolla, San Diego, Californien) et al. Cell, doi: 10.1016/j.cell.2024.03.042

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