„Träume sind Produkte eines Teufels aus der Maschine, Hilferufe eines gefangenen Unterbewusstseins.” Zu diesen drastischen Bildern griff jüngst ein gestandener Wissenschaftler, der Münchner Chronobiologe Till Roenneberg. In seinem Essay „Das Morgen-Grauen” kam er zu dem Schluss, dass Träume immer noch „ etwas Mystisches” seien, „wie so Vieles, das wir nicht verstehen” .
Über den Sinn des Träumens kursieren mehrere Theorien, die teils vereinbar scheinen, sich teils aber auch gegenseitig ausschließen. Zu den Klassikern gehört Sigmund Freuds Traumdeutung, die er selbst so auf den Punkt brachte: „Träume sind verhüllte Erfüllungen von verdrängten Wünschen.” Moderne Psychoanalytiker glauben das immer noch: Sie halten Träume für notwendig, um psychisch gesund zu sein.
„Träume sind Schäume.” Diese Überzeugung vertritt dagegen der Harvard-Physiologe J. Allan Hobson. Seine in den Siebzigerjahren mit Robert McCarley entwickelte Aktivations-Synthese-Theorie geht davon aus, dass Träume lediglich die bedeutungslose Begleiterscheinung einer allgemeinen Aktivierung des Gehirns sind, die von der „Pons” (lateinisch: Brücke), einem Zentrum im Hirnstamm, ausgeht. Weil mittlerweile entdeckt wurde, dass wir nicht nur in der besonders aktiven REM-Phase (von „Rapid Eye Movements”, schnelle Augenbewegungen) des Schlafs träumen, musste Hobson seine Theorie modifizieren. Den Inhalten der Träume misst er jedoch nach wie vor keine Bedeutung bei.
„Träume helfen beim Vergessen.” Diese Hypothese stellte in den frühen Achtzigern der DNA-Entdecker Francis Crick auf, der sich im Alter der Neurobiologie zugewandt hatte. Wie bei einem Hausputz würde das schlafende Gehirn Erinnerungsfetzen aufnehmen, um sie wegzuwerfen.
Die Idee hat neue Aktualität bekommen durch Studien von zwei italienischen Psychiatern, Chiara Cirelli und Giulio Tononi, die an der Universität von Madison/Wisconsin lehren. Sie halten den gesamten Schlaf für eine große Aufräumaktion, bei der – unter dem Einfluss langsamer Gehirnwellen, so genannter delta-Wellen – synaptische Verbindungen geschwächt würden, sodass nur die stärksten Synapsen die Nacht überleben. Träume könnten die mentale Begleiterscheinung des großen Reinemachens sein.
„Träume festigen Erinnerungen”, postulieren dagegen Lernforscher, die festgestellt haben, dass man sich nach einem Nachtschlaf oder auch einem kurzen Nickerchen frisch gelernte Fakten oder Fähigkeiten besser merken kann.
Ein faszinierender Tierversuch des Neurobiologen Matthew Wilson vom MIT in Cambridge (USA) deutet in die gleiche Richtung: Wilson ließ Ratten durch ein Labyrinth laufen und zeichnete dabei die Nervenzell-Aktivität in deren Hippocampus auf – einem Hirnteil, der für das Erinnern wichtig ist. Bald kannte der Forscher die Erregungsmuster so gut, dass er allein beim Blick auf die Daten sagen konnte, wo eine Ratte sich gerade im Labyrinth befand. Als Wilson seine Apparatur später an den schlafenden Ratten ausprobierte, fand er dieselben Muster wieder, manchmal leicht variiert, so als übten die Ratten im Schlaf einfach weiter. Ob sie dabei ein Traumerlebnis hatten, kann man nicht mit Sicherheit wissen. Doch es gibt viele Hinweise darauf, dass Tiere träumen – zumindest Säugetiere und die meisten Vögel.
Aber warum recyceln wir im Schlaf nicht nur realistische Erinnerungen, sondern produzieren auch bizarre Geschichten, in denen – wie Roenneberg aufzählt – „Geister, Monster, Fabelwesen, gefährliche Tiere und verhasste Volksschullehrerinnen” eine unheimliche Rolle spielen? Mit anderen Worten: Wozu sind Alpträume gut? Der finnische Psychologe Prof. Antti Revonsuo hat hierzu eine interessante Hypothese aufgestellt: „Die biologische Funktion des Traums ist es, bedrohliche Ereignisse zu simulieren und dadurch die Wahrnehmung von Gefahren und ihre Vermeidung zu üben.” Er meint, dass es in der Frühzeit der Menschheit genügend Bedrohungen gab, um solch ein nächtliches „Simulator-Training” evolutionär plausibel zu machen.
Doch wer hat recht? Sicher müssen die Hirnforscher darüber noch etliche Mal schlafen. Judith Rauch ■