„Darm-Hirn-Achse“ heißt das Schlagwort: Wie die Zusammensetzung der Mikrobengemeinschaften im Darm auch das Gehirn und Verhalten beeinflussen kann, verdeutlicht nun erneut eine Studie: Ein bestimmter Bakterienstamm veranlasst demnach Mäusemütter, ihre Jungen zu vernachlässigen. Die Ursache ist möglicherweise eine Beeinflussung des Serotonin-Systems, dessen Rolle bei Empfindungen bekannt ist. Auch wenn sich die Ergebnisse bisher nicht direkt auf den Menschen übertragen lassen, verdeutlichen sie doch grundlegend, wie komplex sich Darmmikroben auswirken können, sagen die Forscher.
Wichtige Winzlinge: Die gesundheitliche Bedeutung der Bakterien in unserem Verdauungssystem ist in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus der Wissenschaft gerückt. Dabei zeigte sich, dass die Zusammensetzung der Darmflora nicht nur mit dem Immunsystem und rein körperlichen Effekten verknüpft ist, sondern auch mit neurodegenerativen Erkrankungen und psychischen Problemen. Bestimmte Merkmale des menschlichen Mikrobioms wurden etwa mit der Entwicklung von Alzheimer sowie mit Depressionen und Angstzuständen in Verbindung gebracht. Die Bedeutung dieser sogenannten Darm-Hirn-Achse ist momentan ein wichtiges Forschungsfeld. Da Untersuchungen zur Bedeutung der Darmflora eher schwer beim Menschen durchzuführen sind, nutzen Wissenschaftler dabei oft Tiere als Modellsysteme.
Ein spezieller E. coli-Stamm im Visier
Im aktuellen Fall untersuchten die Forscher um Janelle Ayres vom Salk Institute for Biological Studies in La Jolla an Mäusen die Effekte eines bestimmten Stammes des Darmkeims Escherichia coli. Es gab Hinweise darauf, dass diese Version „O16:H48 MG1655“ des weitverbreiteten Bakteriums mit Entwicklungsstörungen bei Mäusejungen in Verbindung steht. Es erschien möglich, dass sich die Darmbakterien negativ auf die Zusammensetzung der Milch der Muttertiere auswirken. Für ihre Studie generierten die Wissenschaftler weibliche Mäuse, die jeweils nur O16:H48 MG1655 als einzigen Stamm von E. coli in ihrem Darm trugen. Als diese Versuchstiere zu Müttern wurden, konnten sie dann die Effekte im Detail untersuchen.
Es zeigte sich zunächst: Die Jungtiere wiesen ein vergleichsweise zurückgebliebenes Wachstum auf. Wie die anschließenden Untersuchungen verdeutlichten, lag dies allerdings nicht an den Babys selbst oder an der Qualität der Milch – sondern schlicht an einer Unterernährung. “Wir konnten zeigen, dass das Verhalten der Jungtiere normal war und die Milch der Mütter eine gesunde Zusammensetzung besaß und in normalen Mengen produziert wurde”, sagt Ayres. Der Grund für die Unterernährung war hingegen Vernachlässigung: “Wir fanden schließlich heraus, dass die Besiedlung mit diesen speziellen Bakterien zu einem abnormalen mütterlichen Verhalten führte: Die Mäusemütter kümmerten sich nicht genug um ihre Jungen”, erklärt Ayres. Bestätigen konnten die Forscher dies, indem sie die Jungtiere an „normale“ Pflegemütter übergaben: Bei ihnen entwickelten sich die Kleinen problemlos.
Komplexe Darm-Hirn-Achse
“Unseres Wissens nach ist dies der erste Nachweis im Tiermodell, dass Darmmikroben eine Bedeutung für die Entwicklung eines gesunden mütterlichen Verhaltens haben können”, sagt Ayres. “Dabei handelt es sich um einen weiteren Beleg der Verbindung zwischen Darm und Gehirn und der Bedeutung von Mikroben für die Regulierung des Verhaltens des Individuums, das sie bewohnen”, so die Wissenschaftlerin. Die Erstautorin der Studie Yujung Michelle Lee sagt dazu: “Es ist erstaunlich, dass offenbar sogar die Etablierung einer gesunden Mutter-Kind-Beziehung von Faktoren beeinflusst werden kann, die mit Mikroorganismen im Körper verbunden sind.”
In weiteren Untersuchungen gehen die Wissenschaftler nun der Frage nach, was dem Effekt zugrunde liegen könnte. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Bakterien den Serotoninspiegel der Mäusemütter beeinflussen könnten. Dies erscheint plausibel: Serotonin ist ein Neurotransmitter und Hormon, das mit Glücksgefühlen und Wohlbefinden in Verbindung gebracht wird.
Bisher bleibt allerdings unklar, inwieweit die Studie eine konkrete Bedeutung für den Menschen haben könnte. Es ist nur bekannt, dass der Stamm O16:H48 MG1655 auch im menschlichen Darm vorkommen kann. Über seine Bedeutung für uns gibt es bislang jedoch noch keine weiteren Informationen. “Es ist sehr schwierig, diese Zusammenhänge beim Menschen zu untersuchen, weil die menschliche Darmflora Hunderte von verschiedenen Arten von Mikroorganismen enthält”, sagt Ayres. “Aber sobald wir mehr über die Mechanismen in Tiermodellen verstehen, können wir unsere Erkenntnisse vielleicht auf den Menschen übertragen, um festzustellen, ob die Mikroben und ihre Auswirkungen vergleichbar sind”, sagt Ayres.
Quelle: Salk Institute, Fachartikel: Science Advances, doi: 10.1126/sciadv.abe6563