Die Herausforderung, Schrift zu lesen, ist evolutionsgeschichtlich zu jung, als dass sich dafür spezifische Hirnbereiche hätten entwickeln können. Doch wie schaffen wir es, Regelmäßigkeiten in Buchstabenkombinationen zu erkennen und aus ihnen einen Sinn abzuleiten? Eine neue Studie zeigt, dass die Grundlage dafür ein evolutionär alter Mechanismus ist, der darauf beruht, dass wir wiederkehrende Muster erkennen und als bekannt wahrnehmen. Dabei spielte es im Experiment keine Rolle, ob es sich um buchstabenähnliche Zeichen, geometrische Gebilde oder variierende Gitterformen handelte.
Lesen ist für das Gehirn eine anspruchsvolle Aufgabe: Es muss Formen als Buchstaben erkennen, die in bestimmten Kombinationen spezifische Laute repräsentieren und einen Sinn ergeben. Erste menschliche Schriftsprachen haben sich erst vor rund 5.000 Jahren entwickelt. Dieser Zeitraum ist jedoch evolutionsgeschichtlich gesehen zu kurz, als dass sich unser Gehirn eigens an die neue Herausforderung hätte anpassen können. Anders als beispielsweise für das Tasten oder Riechen gibt es im Gehirn daher kein eigens dafür entwickeltes Lesezentrum. Offenbar nutzt es also ältere Mechanismen.
Wörter aus Formen
Um welche Mechanismen es sich dabei handelt, hat nun ein Team um Yamil Vidal von der International School for Advanced Studies (SISSA) in Italien untersucht. Dafür testeten die Forscher bei ihren Probanden, wie gut sie wiederkehrende Muster in Buchstabenkombinationen erkennen – eine Fähigkeit, die beim Lesen als grundlegend gilt. Anders als in klassischen Studien verwendeten Vidal und Kollegen als Stimuli aber nicht nur buchstabenartige Zeichen, sondern auch Gebilde, die mit Buchstaben wenig gemeinsam haben. Die Annahme dahinter: „Wenn das Lesen auf allgemeinen visuellen Mechanismen beruht, sollten einige Effekte, die auftreten, wenn wir mit orthografischen Zeichen konfrontiert werden, auch auftreten, wenn wir nicht-orthografischen Stimuli ausgesetzt sind“, so die Forscher. „Und genau das hat diese Studie gezeigt.“
Für die Untersuchung sollten sich die Probanden zunächst mit kurzen „Wörtern“ vertraut machen, die jeweils aus drei buchstabenähnlichen Zeichen bestanden. Um zu verhindern, dass die Teilnehmer durch ihr Vorwissen beeinflusst wurden, ähnelten die Zeichen zwar einer Schrift, hatten jedoch keine Bedeutung. Im nächsten Schritt sahen die Teilnehmer bekannte und neue Kombinationen dieser Pseudobuchstaben und sollten identifizieren, welche der Wörter „richtig“ und welche „falsch“ waren. „Wir fanden heraus, dass die Teilnehmer lernten, Wörter in dieser erfundenen Sprache daran zu erkennen, wie häufig bestimmte Teile zusammen auftraten: Wörter, die aus häufigeren Paaren von Pseudobuchstaben bestanden, wurden leichter identifiziert“, berichten die Autoren.
Das gleiche Experiment wiederholten sie mit dreidimensionalen Objekten mit drei Armen, deren Enden jeweils unterschiedlich geformt waren – analog zu den drei „Buchstaben“ im ersten Experiment. In einem weiteren Test nutzten die Forscher verschiedene Gitterformen, die sich durch Abstand, Dicke, Kontrast und Neigung der Gitterlinien unterschieden. Von Versuch zu Versuch wurden die Stimuli dabei abstrakter und unähnlicher zu echten Buchstaben. Dennoch waren die Probanden auch in diesen Experimenten in der Lage, passende und unpassende Stimuli zu unterscheiden.
Regelmäßigkeiten in Wörtern und Gesichtern
„Was aus dieser Untersuchung hervorging“, erklären die Autoren, „unterstützt nicht nur unsere Hypothese, sondern sagt uns auch etwas mehr über die Art und Weise, wie wir lernen. Es deutet darauf hin, dass ein grundlegender Teil davon das Erkennen von statistischen Regelmäßigkeiten in den visuellen Reizen ist, die wir um uns herum wahrnehmen“. Demnach beobachten wir, was uns umgibt, zerlegen es unbewusst in Elemente und analysieren intuitiv deren Häufigkeit. Verantwortlich dafür ist im Gehirn der linke fusiforme Gyrus, ein Teil der Großhirnrinde.
Frühere Studien haben gezeigt, dass diese Region sowohl beim Lesen aktiv ist als auch beim Erkennen von Objekten, insbesondere Gesichtern. Diese evolutionär alte Fähigkeit wird den Forschern zufolge „recycelt“, wenn Menschen des Lesens fähig werden. In allen Fällen ist es entscheidend, Regelmäßigkeiten zu erkennen und ihnen eine Bedeutung zu verleihen. „Es gibt, kurz gesagt, eine adaptive Einstellung auf Reize, die regelmäßig auftreten. Diese Erkenntnis ist nicht nur wichtig, um zu verstehen, wie unser Gehirn funktioniert, sondern auch, um Systeme der künstlichen Intelligenz zu verbessern, die ihr Lernen auf dieselben statistischen Prinzipien stützen“, so die Forscher.
Quelle: Yamil Vidal (International School for Advanced Studies, Italien), Current Biology, doi: 10.1016/j.cub.2020.12.017