Zeit kann sich sehr unterschiedlich lang anfühlen. Mal vergehen Stunden wie im Flug, mal scheinen sich Minuten unendlich zu dehnen. Eine Studie zeigt nun, dass auch unsere visuelle Wahrnehmung unser Zeitgefühl prägt. Sehen wir ein besonders markantes Bild, haben wir demnach den Eindruck, es länger betrachtet zu haben, als in Wirklichkeit. Im Vergleich dazu, vermitteln uns Bilder von übersichtlichen Szenen das gegenteilige Gefühl. Ein neuronales Netzwerkmodell zeigt, dass dieser Effekt wahrscheinlich mit der Verarbeitungsgeschwindigkeit in unserem Gehirn zusammenhängt. Die Ergebnisse legen nahe, dass wir nicht eine universelle „innere Uhr“ haben, sondern die Zeit anhand von äußeren Reizen subjektiv einschätzen.
Wenn wir ein spannendes Buch lesen oder einen Abend mit Freunden verbringen, merken wir kaum, wie die Zeit verstreicht. Bei unbeliebteren Aufgaben hingegen kann es vorkommen, dass wir nach gefühlt einer Stunde auf die Uhr schauen und feststellen, dass gerade erst fünf Minuten vergangen sind. Auch auf sehr kleinen Zeitskalen im Sekundenbereich kann unsere Zeitwahrnehmung je nach äußeren Einflüssen variieren. Doch was genau beeinflusst unser Zeitgefühl und welche Mechanismen stehen dahinter?
Übersichtlichkeit beeinflusst Zeitwahrnehmung
Diese Fragen hat ein Team um Alex Ma von der George Mason University in Virginia durch eine Reihe von Experimenten untersucht. Dabei zeigten die Forschenden ihren Testpersonen nacheinander zahlreiche Bilder, wobei jedes Bild für 0,3 bis 0,9 Sekunden präsentiert wurde. Nach jedem Bild sollten die Probanden per Tastendruck angeben, ob sie glaubten, das Bild lang oder kurz gesehen zu haben.
Das Ergebnis: Sahen die Probanden Bilder von großen, klaren Szenen, etwa einen Konzertsaal oder ein Fußballstadion, hatten sie oft dein Eindruck, das Bild länger gesehen zu haben als es ihnen tatsächlich gezeigt wurde. Sehr unübersichtliche Bilder dagegen hatten einen gegenteiligen Effekt. Ein unaufgeräumtes Zimmer, ein wuseliger Marktplatz und ähnliche Bilder vermittelten den Testpersonen das Gefühl, nur einen kurzen Blick erhascht zu haben – selbst wenn das Bild in Wirklichkeit länger präsentiert worden war als das einer besser überschaubaren Szene.
Wechselspiel zwischen Einprägsamkeit und gefühlter Dauer
In einem weiteren Experiment bezogen die Forschenden zusätzlich ein, wie einprägsam die jeweiligen Bilder waren. Dazu nutzten sie Bilder, für die bereits frühere Studien klassifiziert hatten, wie gut sich Probanden später an sie erinnern können. Um herauszufinden, wie präzise die Testpersonen die Zeit einschätzen können, sollten sie in diesem Experiment nicht einfach „kurz“ oder „lang“ drücken, sondern eine Taste genau so lange gedrückt halten, wie sie glaubten, das Bild gesehen zu haben. Dabei zeigte sich, dass sie die Dauer von einprägsameren Bildern genauer einschätzen konnten.
Bei weniger einprägsamen Bildern hingegen unterschätzten sie üblicherweise, wie lange sie diese gesehen hatten. Auch andersherum zeigte sich eine Beziehung zwischen wahrgenommener Dauer und Einprägsamkeit: „Je länger die wahrgenommene Dauer eines Bildes, desto einprägsamer ist es“, berichtet das Team. So konnten sich Probanden bei einem Test am Folgetag eher an Bilder erinnern, bei denen sie tags zuvor den Eindruck hatten, sie länger gesehen zu haben.
Beschleunigte Verarbeitung
Auf der Suche nach den zugrundeliegenden Mechanismen erstellten die Forschenden ein neuronales Netzwerkmodell unseres visuellen Systems. Auf diese Weise konnten sie rekonstruieren, wie unser Gehirn wahrscheinlich auf die Bilder reagiert. „Wir fanden heraus, dass einprägsamere Bilder schneller verarbeitet werden und dass dieser Anstieg der Verarbeitungsgeschwindigkeit sowohl die Verlängerung als auch die erhöhte Präzision der wahrgenommenen Zeitdauer vorhersagt“, schreiben die Forschenden.
Das deutet darauf hin, dass unser Gehirn sich bei der Zeitabschätzung nicht auf einen unabhängigen, inneren Taktgeber verlässt, sondern dass äußere Reize die Verarbeitungsgeschwindigkeit und damit auch die gefühlte Zeit beeinflussen können. „Diese Ergebnisse belegen einen Zusammenhang zwischen Bildmerkmalen, Zeitwahrnehmung und Gedächtnis, der mit Modellen der visuellen Verarbeitung weiter erforscht werden kann“, so die Forschenden.
Quelle: Alex Ma (George Mason University, Fairfax, Virginia, USA) et al, Nature Human Behaviour, doi: 10.1038/s41562-024-01863-2