7,5 Millionen deutsch sprechende Erwachsene können zwar kurze Sätze lesen und schreiben, aber keine zusammenhängenden Texte verstehen – sie sind „funktionale Analphabeten”. Das ergab eine Anfang 2011 veröffentlichte Studie einer Arbeitsgruppe um die Bildungsforscherin Anke Grotlüschen an der Universität Hamburg. Die Wissenschaftler waren darin der Frage nachgegangen, wie gut Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren tatsächlich lesen und schreiben können. Sie testeten 7035 zufällig ausgewählte Personen plus eine Zusatzstichprobe von 1401 Personen im unteren Bildungsbereich. Ergebnis: 14,5 Prozent wiesen Defizite auf – etwa 60 Prozent davon waren Männer und etwa 40 Prozent Frauen.
Menschen mit einer mangelnden Lese- und Schreibfähigkeit haben große Probleme: Sie finden schwer eine Arbeit und nehmen kaum am gesellschaftlichen Leben teil. Magdeburger Neuropsychologen weisen jetzt einen Weg aus der Misere. In einem dreijährigen Projekt, das von 2008 bis 2010 lief, haben sie die biologischen Ursachen des funktionalen Analphabetismus erforscht. Jascha Rüsseler, der Leiter des Projekts, zieht die Bilanz: Das Problem ist nicht allein auf soziale Faktoren zurückführen wie ungünstige familiäre Einflüsse, fehlende Anregung zum Lesen und Schreiben, unregelmäßige Schulbesuche, häufige Schulwechsel oder fehlende Kommunikation. Eine wesentliche Ursache ist die neuronale Verschaltung im Gehirn.
Ähnlich wie bei kindern
Rüsseler und sein Team stellten fest: Es gibt eine klare Parallele zwischen Kindern mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche (LRS) und erwachsenen funktionalen Analphabeten. „Bei beiden Gruppen sind die grundlegenden Wahrnehmungsfähigkeiten beeinträchtigt”, erklärt der Neuropsychologe. Kinder mit LRS haben Schwierigkeiten mit visuellen und akustischen Reizen, die eine schnelle Verarbeitung in Millisekunden erfordern. Sie können zum Beispiel Laute wie „ba” und „pa” oder „ga” und „ka” kaum unterscheiden. „Diese Defizite haben wir auch bei erwachsenen funktionalen Analphabeten nachgewiesen”, berichtet Rüsseler und folgert: „Funktionaler Analphabetismus ist letztlich nichts anderes als ein besonders schwerer Fall von Lese- und Rechtschreibschwäche, die im Erwachsenenalter fortbesteht.” Wie es dazu kommen kann, beschreibt Rüsseler mithilfe des „Vulnerabilitäts-Stress-Modells” , das auch die Entstehung vieler Psychosen erklärt. Demnach müssen zum Ausbruch einer mentalen Störung zwei Faktoren zusammentreffen: erstens eine genetisch bedingte Anfälligkeit und zweitens eine belastende Lebenssituation. Bezogen auf den funktionalen Analphabetismus heißt das: Kommen bei einem Menschen mit einem Wahrnehmungsdefizit die genannten sozialen Faktoren dazu, entsteht ein Lese- und Rechtschreib-Defizit.
„Für die Beeinträchtigung der grundlegenden Wahrnehmungsfähigkeiten gibt es eine neurobiologische Erklärung”, sagt Rüsseler. Im auditiven System des Gehirns sind bestimmte Nervenzellen maßgeblich an der Verarbeitung von Hörreizen beteiligt: die Magnozellen. Sie müssen im Gehirn des Embryos erst zu ihrem endgültigen Funktionsort wandern. Ein Gen, das wahrscheinlich den Weg dieser Magnozellen steuert, hat ein deutsch-schwedisches Team um den Humangenetiker Johannes Schumacher von der Universität Bonn bereits 2006 identifiziert. „ Die Hypothese ist, dass es durch eine fehlerhafte genetische Ausstattung zu dem Defizit kommt”, erklärt der Magdeburger Forscher. Die Betroffenen wären dadurch nicht in der Lage, Hörreize schnell genug zu verarbeiten. Zunächst wurde ein solcher Gen-Defekt bei Legasthenikern nachgewiesen. Mit verschiedenen Tests haben Rüsseler und sein Team inzwischen gezeigt, dass funktionale Analphabeten das gleiche Defizit haben – also vermutlich auch denselben Gen-Defekt, folgern die Forscher.
Die Tonlänge ist entscheidend
Bei einem der Tests wurden den 120 Teilnehmer drei schnell aufeinander folgende Töne vorgespielt, von denen einer eine andere Tonhöhe hatte. Die Probanden sollten entscheiden, welcher der drei Töne es war. Dann wurde die Tonlänge immer weiter verkürzt, bis sich der Unterschied nicht mehr erkennen ließ, und es wurde ein Schwellenwert bestimmt. Das Resultat: Damit funktionale Analphabeten sicher angeben konnten, welcher Ton abwich, mussten die Töne bei ihnen ungefähr doppelt so lang sein wie bei einem Durchschnittsmenschen.
Um schreiben zu lernen, muss man die Sprache beherrschen – was voraussetzt, dass man Töne unterscheiden kann. Haben Menschen Probleme beim Hören, etwa bei der Unterscheidung von Lauten innerhalb eines Worts, entwickeln sie keine „phonologische Bewusstheit”, wie die Leseforscher sagen. Die Konsequenz ist, dass sie Wörter falsch schreiben und auch nur schlecht lesen können.
Nach den Tests entwickelten die Forscher in Zusammenarbeit mit dem Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft und der Wedemarker Firma MediTech ein Programm aus mehreren Bausteinen: Training der auditiven und der visuellen Wahrnehmung, Lese- und Schreibübungen, praktische Hilfe etwa beim Einkaufen, Ausfüllen von Bankformularen oder Lösen von Fahrkarten am Automaten sowie ein dreiwöchiges Betriebspraktikum. Die ersten 23 Kursteilnehmer absolvierten ein straffes Pensum: Sieben Monate lang übten sie fünfmal pro Woche mehrere Stunden täglich. Lese- und Rechtschreibtests vor und nach dem Training dokumentierten die Fortschritte.
Als weiteren Baustein setzten die Forscher einen sogenannten Lateraltrainer ein. Das Gerät aktiviert beide Hirnhälften und verbessert die Koordination der rechten und linken Hälfte. „ Normalerweise dominiert die linke Hirnhälfte bei der Sprachverarbeitung”, erklärt Rüsseler. Bei Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche lässt sich hingegen kein Unterschied feststellen. Außerdem können sie nur schlecht einen Laut einem Schriftbild zuordnen, wie es beim Lesen geschieht. Hier setzt der Lateraltrainer an: Auf einem Computermonitor wird den Teilnehmern ein Text gezeigt, den sie vorlesen sollen. Gleichzeitig hören sie über den Kopfhörer eine Stimme, die mitspricht, und abwechselnd mal auf dem einen, mal auf dem anderen Ohr zu hören ist. „Das erfordert eine enge Zusammenarbeit beider Gehirnhälften”, erläutert der Neuropsychologe. Welche Hirnareale dabei aktiv sind, hat sein Team mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) sichtbar gemacht: Es ist unter anderem das visuelle Wortform-Areal im linken Hinterkopf. Im Kindesalter spezialisiert sich diese Region auf die schnelle und automatische Erkennung von Wörtern. Die Forscher stellten bei den Testpersonen nach einem weiteren speziellen Lesetraining mit Wortpaaren, Pseudowörtern und Buchstabenketten eine erhöhte Aktivität in diesem visuellen Wortform-Areal fest (siehe Gehirn-Scans in der Abbildung oben). Sie schließen daraus: Auch Erwachsene können lernen, Wörter automatisch zu erkennen. Das entspricht den Befunden der Hirnforschung, wonach das Gehirn grundsätzlich lebenslang veränderbar ist.
Das Ergebnis des Trainings: Die Lese- und Rechtschreibleistung verbesserte sich während der sieben Monate deutlich – allerdings nicht so stark, wie Rüsseler gehofft hatte. „Wir haben unterschätzt, dass unsere Teilnehmer neben den Lese- und Schreibschwierigkeiten auch mit anderen Problemen zu kämpfen haben, nämlich mit psychischen und emotionalen”, erklärt der Magdeburger Neuropsychologe. „Doch immerhin haben die Teilnehmer ein Grundschulpensum von eineinhalb Jahren in sieben Monaten geschafft.”
Feuerprobe bestanden
Aus Rüsselers Sicht hat das Trainingsprogramm seine Feuerprobe bestanden. Zum Jahresende soll ein Gesamtpaket aus dem Trainingsgerät, einer Software und Buchmaterial für Bildungseinrichtungen wie Volkshochschulen und Trainingszentren der Agentur für Arbeit zur Verfügung stehen. Nutzen könnten es auch Unternehmen, die Mitarbeiter mit Lese-Rechtschreib-Defiziten im eigenen Haus fördern wollen.
Allerdings: Rund 2000 Euro sollen Hard- und Software kosten. „ Unser Programm ist in vielen Kursen über mehrere Jahre nutzbar”, rechtfertigt Rüsseler den Preis. Sein Trainings ist bedeutend intensiver als die herkömmlichen Alphabetisierungsprogramme. Bislang besuchen die meisten funktionalen Analphabeten zur Therapie nur einmal wöchentlich einen Kurs an einer Volkshochschule. Das reiche nicht, kritisiert Rüsseler: „Die Kurse sind gut, aber nicht intensiv genug.” ■
SABINE LÖCHER-BOLZ, Journalistin in Bühl, hielt Analphabetismus bis zu ihrer Recherche für ein Problem in Entwicklungsländern.
von Sabine Löcher-Bolz
KOMPAKT
· Funktionaler Analphabetismus ist eine extreme Form der Lese- und Rechtschreibschwäche.
· Die Betroffenen nehmen visuelle und akustische Reize nur eingeschränkt wahr.
· Forscher haben ein Trainingsprogramm entwickelt, das die Koordination der Gehirnhälften verbessert.
NOCH NIE EIN BUCH GELESEN
Wie gut können Sie inzwischen lesen und schreiben, Frau Mattes?
Einzelne Wörter kann ich lesen und schreiben, auch kurze Sätze. Aber an zusammenhängenden Texten scheitere ich. Deshalb habe ich auch noch nie ein Buch gelesen oder einen Brief geschrieben.
Wie war Ihre Schulzeit?
Ich bin in eine Dorfschule gegangen. Damals war es üblich, dass ein Lehrer mehrere Klassen unterrichtet. Dennoch blieben meinem Lehrer meine Lese- und Schreibdefizite nicht verborgen. Er hat mich in eine Ecke des Klassenzimmers gesetzt und in Ruhe gelassen. Förderkurse gab es nicht. Meine Eltern bemerkten erst, als ich schon zehn Jahre alt war, dass ich ganz schlecht lese und schreibe. Sie besaßen einen landwirtschaftlichen Betrieb. Wenn ich von der Schule kam, musste ich mit meinen vier Geschwistern auf dem Feld arbeiten. Da blieb keine Zeit zum Üben. Nach acht Jahren habe ich die Schule ohne Abschluss verlassen.
Haben Sie anschließend gearbeitet?
Ja, ich hatte Glück und konnte als Haushaltshilfe arbeiten.
Ist niemandem aufgefallen, dass Sie nur wenig lesen und schreiben können?
Ich habe mich eben durchgemogelt, bin bloß mit meinem Ehemann einkaufen gegangen. Wenn es ums Schreiben ging, war meine Ausrede immer die vergessene Brille. Ich lebte ständig in der Angst, dass mein Handicap entdeckt würde. Erst durch den Kurs an der Volkshochschule in Karlsruhe hat sich meine Situation verbessert. Heute kann ich mehr lesen und schreiben und offen über mein Problem sprechen.
INTERNET
LEO-Studie von A. Grotlüschen, Uni Hamburg, zum Analphabetismus in Deutschland: www.alphabetisierung.de/fileadmin/files/Dateien/Downloads_Texte/leo-Presseheft-web.pdf
Der Bundesverband für Alphabetisierung und Grundbildung e.V. leistet Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit: www.alphabetisierung.de
KONTAKT
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