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No risk, no fun?

Gesellschaft|Psychologie

No risk, no fun?
Jeder Mensch lebt mit Risiken – freiwillig oder unfreiwillig. Sicherheitsmaßnahmen setzt er immer wieder trickreich außer Kraft.

„Sind Sie ein risikobereiter Mensch, oder versuchen Sie, Risiken zu vermeiden?” Die Antwort verrät viel: Setzt jemand sein Geld durch den Kauf von Aktien aufs Spiel, oder parkt er es bei bescheidenem Zinssatz auf dem Sparbuch? Will er lieber selbstständig arbeiten oder als Beamter? Treibt er gefährliche Sportarten? Raucht er? All dies hängt mit seiner persönlichen Risikobereitschaft zusammen.

Die klopften Wissenschaftler des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit in Bonn bei 22 000 Bundesbürgern ab – in der weltweit größten Studie zur Risikoeinstellung. Die Daten gehören zum „Sozioökonomischen Panel”, einer großangelegten Langzeituntersuchung, bei der jedes Jahr die gleichen Familien nach ihren Lebensverhältnissen und Einstellungen befragt werden.

Praktisch alles, was wir tun, birgt ein gewisses Risiko. Ganz einfach: Wer nicht verhungern will, muss trotz aller Lebensmittelskandale essen. Und wem der Alltag nicht Nervenkitzel genug bietet, der sucht eben gezielt das Risiko – mit hohen Einsätzen bei Sportwetten oder abenteuerlichen Manövern im Straßenverkehr.

Junge Männer neigen besonders zum Draufgängertum. „Männliches Geschlecht ist in den Industrieländern der größte Risikofaktor für einen frühen Tod”, sagt der Psychologe Daniel Kruger von der University of Michigan. Evolutionspsychologen wie Kruger führen dies darauf zurück, dass junge Männer mit hohem Einsatz um Partnerinnen konkurrieren, um eine möglichst große Zahl an Nachkommen zu zeugen.

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Die gewagten Aktionen sind dabei zum Teil reine Demonstration von Stärke, ist der Psychologe Victor Nell überzeugt, der vor seiner Emeritierung an der University of South Africa in Johannesburg lehrte. Sie sollen zeigen: „Schaut mich an! Ich bin so stark und geschickt, dass ich keine Angst habe. Ich werde überleben, egal wie viel ich trinke oder wie schnell ich fahre.” Wie die deutsche Studie ergab: Fast 40 Prozent der Männer zwischen 20 und 30 Jahren sind bereit, im Straßenverkehr ein mittleres bis sehr hohes Risiko einzugehen.

Doch Risikofreude bietet – unabhängig von Alter und Geschlecht – auch Vorteile, wie die Bonner Studie verrät: Statistisch gesehen sind Wagemutige glücklicher. Allerdings ist unklar, ob da gewinnt, wer etwas wagt. Vielleicht sind auch umgekehrt glückliche, optimistische Menschen risikobereiter. Interessanterweise scheinen risikobereite Menschen intelligentere Menschen zu sein. Aber auch hier wäre der umgekehrte Fall möglich: Vielleicht können schlaue Leute Gefahren besser einschätzen und trauen sich daher Dinge, von denen schlichtere Gemüter lieber die Finger lassen.

Sicher besitzt niemand die gleiche Risikobereitschaft in allen Lebenslagen. Eine Grundtendenz ist zwar da, aber man kann durchaus auf der Skipiste mehr riskieren als an der Börse. Doch Wirtschaftswissenschaftler, die einen Großteil der Risikoforschung betreiben, erfassen im Wesentlichen diese Grundtendenz – vorzugsweise mit reichlich theoretischen Fragen wie: „Stellen Sie sich vor, dass Sie in einer Lotterie 100 000 Euro gewinnen. Wie viel würden Sie für eine einerseits riskante, andererseits gewinnversprechende Geldanlage einsetzen?”

Das besagt wenig über die Risikobereitschaft bei echten Lebensentscheidungen. Am meisten verraten Risikofragen zu konkreten Lebenslagen: Menschen, die sich selbst eine hohe Risikobereitschaft in Gesundheitsdingen bescheinigen, rauchen häufiger. Menschen, die dies für berufliche Angelegenheiten bejahen, sind öfter Selbstständige und seltener Beamte. Nach dem Mauerfall waren sie auch eher bereit, vom einen Teil Deutschlands in den anderen zu ziehen. Und wer einen hohen Risikowert beim Sport hat, der fährt auch eher Ski. In Erstaunen setzen all diese Befunde niemanden.

Doch der Risikofreude muss nicht unbedingt die Tat folgen. Junge Männer sind keineswegs wehrlos ihrem Drang zum Nervenkitzel ausgeliefert. Zwar leisten sich die Deutschen umso mehr Verkehrsverstöße, je jünger sie sind. Doch es gibt eine Ausnahme: Die jüngsten Fahrer lenken wie Frührentner – genau zwei Jahre lang vom 18. bis zum 20. Geburtstag. Dann ist die Probezeit für den Führerschein vorbei, und sofort beginnt die Raserei.

Die Jungspunde verzichten damit gezielt auf ein Stück Sicherheit. So ist es oft im Straßenverkehr: Bullige Geländewagen gelten dank des vielen Metalls um die Insassen als besonders sichere Fahrzeuge. Doch in der Praxis unterlaufen das ihre Fahrer. Viele lassen den Sicherheitsgurt lieber lässig baumeln, statt ihn anzulegen – ein Viertel mehr als die Fahrer normaler Pkw. Und gleich viermal so viele Allrad-Piloten halten unterwegs ihr Handy ans Ohr. Diese Statistik, die auf fast 42 000 Beobachtungen in London basiert, veröffentlichte letztes Jahr das renommierte British Medical Journal.

Die Zahlen verraten nicht, welcher Teufel die Fahrer der Kraftprotze reitet. Doch es gibt eine Theorie, die ihr Verhalten erklärt: die Risikokompensation. Sie besagt: Menschen setzen einen Zugewinn an Sicherheit sofort wieder aufs Spiel. Gemünzt auf die Geländewagenfahrer heißt das: Sie halten sich nicht an Sicherheitsvorschriften, gerade weil sie sich in ihren tonnenschweren Karossen gut geschützt fühlen.

Nicht nur Autofahrer kompensieren verringerte Risiken gleich wieder. Als finnische Holzfäller Helme, Schutzbrillen, Handschuhe und Sicherheitsstiefel verordnet bekamen, gab es danach weniger Verletzungen an den dadurch geschützten Körperteilen, dafür aber um so mehr an den anderen. Bei einer Befragung räumten die Waldarbeiter freimütig ein, dass sie nun schneller und sorgloser arbeiteten. Unterm Strich sank die Zahl der Verletzungen nur leicht. Als im Eishockey und im Football Schutzausrüstungen eingeführt wurden, agierten die Spieler rauer als vorher. Prompt mussten die Regeln verschärft werden.

Risikovermeidung ist eben nicht das einzige Ziel im Leben. Die Erfinder von Sicherheitssystemen vergessen das bisweilen und sehen nur die Gefahren. Der Risikoforscher und Psychologe Rüdiger Trimpop von der Universität Jena kritisiert: „ Ingenieurwissenschaftler lernen, dass Risiko die Wahrscheinlichkeit eines Schadens und seiner negativen Konsequenzen ist” – und wundern sich dann, wie wenig Sicherheitsvorkehrungen bringen. „Alle bisherigen Maßnahmen waren weniger effektiv als prognostiziert, zum Beispiele Gurte, breite Straßen und ABS”, bilanziert Trimpop.

Kinder verhalten sich in riskanten Situationen genau wie Erwachsene. Das stellte Barbara Morrongiello von der kanadischen University of Guelph fest, als sie Schüler zwischen sieben und zwölf Jahren auf einen Hindernislauf schickte. Wenn sie Sicherheitskleidung anhatten, waren sie unvorsichtiger. Sie gerieten eher ins Stolpern, fielen öfter hin und stießen mehr gegen Hindernisse.

Die Kinder folgen dabei nur den Vorgaben ihrer Mütter. Denn die erlauben ihnen grundsätzlich mehr, wenn sie vermeintlich sicherer ausstaffiert sind. Das ergab eine Befragung von David DiLillo von der University of Missouri-Columbia, der Müttern Bilder von Kindern in riskanten Situationen zeigte, die zum Beispiel auf einen Baum kletterten oder einen auf die Straße gerollten Ball holten. Eine Frage an die Mütter lautete: Einen wie steilen Hügel dürfte ihr Kind gerade noch hinunter radeln? Wenn das Kind einen Schutzhelm trug, genehmigten die Mütter gefährlichere Abfahrten.

Auch viele Mediziner sehen die Neigung zum Risikoausgleich voller Sorge. „Risikokompensation: die Achillesferse der Innovationen in der HIV-Prävention?”, überschrieb Michael Cassell von der United States Agency for International Development einen Aufsatz. Gerade hatte sich herausgestellt, dass die Beschneidung für Männer einen gewissen Schutz vor dem Aids-Erreger bietet. Cassell befürchtet, dass Risikokompensation diese Maßnahme ins Leere laufen lassen könnte.

Denn genau das geschah beim bislang größten Erfolg der Medizin im Kampf gegen Aids. Seit einem Jahrzehnt können Ärzte mit starken Medikamenten-Cocktails die Lebenserwartung von Infizierten deutlich verlängern. Doch seit sich das herumgesprochen hat, stecken sich wieder mehr Menschen an. Mit 1197 im ersten Halbjahr 2006 lag die Zahl der neuen Aids-Infektionen in Deutschland um 50 Prozent höher als auf dem Tiefpunkt um die Jahrtausendwende.

Zu befürchten ist: Sollte es gelingen, einen Impfstoff gegen den Aids-Erreger zu entwickeln, wird es zu einer neuen Risikokompensation kommen. Ein Team um Richard Crosby von der University of Kentucky befragte dazu 278 Angehörige von Risikogruppen. Fast ein Viertel sagte, dass sie sich geimpft häufiger auf gefährliche Sexualkontakte einlassen würden. Am risikofreudigsten waren die, die sich am ehesten impfen lassen würden. Die Krux: Selbst wenn der Aids-Impfstoff perfekt wirken sollte, würden die Betroffenen so ihr Infektionsrisiko für andere Geschlechtskrankheiten vergrößern.

Noch weiter als die Theorie der Risikokompensation geht die der Risiko-Homöostase, also der Selbstregulation des Risikos. Sie besagt: Menschen versuchen ihr persönliches Risiko auf einem Sollwert zu halten, ähnlich wie ein Thermostat die Raumtemperatur. Dieser Sollwert ist von Mensch zu Mensch verschieden. Sinkt das persönliche Lebensrisiko – etwa durch Sicherheitsmaßnahmen –, dann fällt uns etwas ein, um es wieder auf diesen Sollwert zu heben, entsprechend der Redensart: „Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis.”

Der Psychologe Gerald Wilde von der Queen’s University im kanadischen Ontario vertritt diese Theorie seit einem Vierteljahrhundert – und ebenso lange wird er dafür angegriffen. Die Gegner sind hauptsächlich Experten, die sich jene Sicherheitsmaßnahmen ausdenken, die laut Wilde sinnlos sind. Doch wie soll man sich sonst erklären, dass Autofahrer Widerstand leisten, wenn der Staat versucht, Unfälle durch Alkohol und Raserei mit schärferen Kontrollen zu vermeiden? Viele Fahrer führen dann auf andere Weise Karambolagen herbei. Das Phänomen heißt „Unfall-Metamorphose”. „Die Summe der Sünden ist konstant”, meint Wilde. Andere Forscher sprechen vom „Erhaltungssatz der Misere”. Die Kritiker halten Wilde allerdings vor, dass Autofahrer ihr Risiko nicht gut genug einschätzen könnten, um es konstant zu halten.

Die meisten Experten sind davon überzeugt, dass technische Maßnahmen durchaus für mehr Sicherheit sorgen können – wenn sie nicht laut propagiert werden. Das Sicherheitsglas im Auto etwa lässt wohl niemanden riskanter fahren – einfach weil keiner daran denkt. Anfällig sind dagegen Maßnahmen, die laut als Sicherheitsgewinn verkauft werden – beispielsweise ABS in den Achtzigerjahren.

Inzwischen ist vielen Experten klar, dass man sich genau überlegen muss, wie man ein neues Sicherheitssystem einführt. An der Technischen Universität Berlin beschäftigt sich die Psychologin Katja Karrer mit einem System, das erkennt, ob ein Autofahrer übermüdet ist, und ihn zum Anhalten bringen soll. Als sie Fernfahrer dazu befragte, meinten einige, das System sei sehr praktisch, weil es einen durch seinen lauten Warnton erschrecke und damit wach halte – man könne so eine ganze Weile länger fahren. Katja Karrer erforscht nun, wie sich ein solcher Missbrauch verhindern lässt.

Heikel sind auch Bremsassistenten: Die meisten Autofahrer drücken bei einer Vollbremsung nicht konsequent aufs Pedal. Dabei soll der Bremsassistent an der Pedalbedienung erkennen, dass der Fahrer eine Vollbremsung wünscht, und sie dann automatisch ausführen. Weil die Hersteller die Sorge haben, dass der Assistent im falschen Moment die Notbremse zieht und dadurch einen Unfall erst verursacht, ist das System so eingestellt, dass es im Zweifelsfall nicht eingreift. Verkehrspsychologe Färber testete vor Kurzem ein japanisches Modell, das zusätzlich mit einem Radarsensor nach Objekten auf Kollisionskurs spähte. „Wir haben es nicht geschafft, den zum Auslösen zu bringen”, berichtet Färber. Das System sei somit „perfekt für Risiko-Selbstregulation ausgelegt”, kritisiert er. „Es hilft nicht, aber der Nutzer verlässt sich darauf.”

Sinnvoller ist es, Fahrer zu motivieren, Risiken zu vermeiden. In Kalifornien sank die Zahl der Kollisionen beträchtlich, als unfallfreien Fahrern die kostenlose Verlängerung ihrer Fahrerlaubnis versprochen wurde. In Norwegen fuhren Führerschein-Neulinge sicherer, wenn sie von der Versicherung dafür hinterher den Anfängeraufschlag zurückbekamen. Und die deutsche Tochter des Nahrungsmultis Kraft begann vor 50 Jahren, jedem Fahrer ihrer Lastwagenflotte für jedes halbe Jahr, in dem er keinen Unfall verursachte, 350 Mark zu zahlen. Die Zahl dieser Unfälle sank auf Anhieb um ein Drittel und blieb niedrig. Das Geld für die Prämien bekam die Firma so locker wieder herein. Man kann Draufgängern ihre Tollkühnheit also durchaus abgewöhnen. ■

Wenn Jochen Paulus nicht gerade für bdw schreibt, sorgt er für die Sicherheit seiner risikofreudigen vierjährigen Tochter.

Jochen Paulus

COMMUNITY Lesen

Amos Cohen

Risiko- und Sicherheitsverhalten

Sicherheit durch Unsicherheit

Report Psychologie 2005, 30(5), S. 230–231

Jürgen Raithel

Jugendliches Risikoverhalten

Eine Einführung

VS Verlag 2004, € 19,90

Die Theorie der Risiko-Homöostase beschreibt Gerald Wilde in

Target Risk 2: A New Psychology of Safety and Health

PDE Publications, Toronto 2001, $ 29,95

Zu beziehen über:

www.pde.drivers.com/store/books/014.php

Internet

Provozierende Thesen zum Nutzen der Gurtpflicht von John Adams: The efficacy of seatbelt legislation SAE TRANSACTIONS 82:

www.geog.ucl.ac.uk/~jadams/PDFs/SAE%20seatbelts.pdf

Studie über den Zusammenhang von wirksamer Aids-Behandlung und riskantem Sexualverhalten von Ineke Stolte: HOMOSEXUAL MEN CHANGE TO RISKY SEX AIDS Volume 18(2), 23.01.2004, S. 303–309:

www.aidsonline.com

Debatte zwischen dem Risikoforscher Gerald Wilde und dem Epidemiologen Leon Robertson über Risiko-Homöostase im Straßenverkehr:

DOES RISK HOMOEOSTASIS THEORY HAVE IMPLICATIONS FOR ROAD SAFETY? British Medical Journal 2002, 324, S. 1149–1152:

www.bmj.com/cgi/content/ full/324/7346/1149

Ohne Titel

· Risikobereite Menschen sind glücklicher und intelligenter als andere – oder umgekehrt. • Experten sind überzeugt, dass es einen Sollwert für das persönliche Risiko gibt, den jeder Mensch konstant zu halten versucht.

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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