Für unsere Ohren klingen bestimmte Tonintervalle besonders harmonisch, beispielsweise eine Quinte. Solche Akkorde tauchen daher in unserer westlichen Musik besonders häufig auf, die Spannung durch zwischendrin auftretende Dissonanzen wird im Allgemeinen durch harmonische Akkorde wieder aufgelöst. Und das ist nicht erst seit der Neuzeit so: Schon die alten Griechen stellten fest, dass die Tonfrequenzen der Quinte und anderer harmonischer Akkorde immer dem Verhältnis zweier ganzer Zahlen entsprechen. Bei der Quinte stehen die Frequenzen der beiden Töne beispielsweise im Verhältnis 3:2. Dieser mathematische Hintergrund ließ sie darüber spekulieren, ob hinter diesen angenehmen Tonkombinationen eine Art Naturgesetz steht. Ähnlich sehen es viele noch heute: “Wissenschaftler gehen gemeinhin davon aus, dass unsere ästhetischen Reaktionen auf Konsonanzen biologische Wurzeln haben”, erklären Josh McDermott vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge. Einige Musikforscher und Komponisten halten dies dagegen für ein rein kulturell geprägtes Phänomen. Wer jedoch Recht hat, ließ sich bisher nur schwer nachweisen: “Es ist ziemlich schwer, heute Menschen zu finden, die nicht schon mit westlicher Musik in Kontakt gekommen sind, weil diese sich um die ganze Welt verbreitet hat”, sagt McDermott.
Doch genau solche Menschen haben die Forscher im Amazonas-Dschungel gefunden – bei den Tsimane. Dieses rund 12.000 Menschen umfassende Naturvolk ist bisher kaum mit der westlichen Kultur in Kontakt gekommen. Die meisten Tsimane leben ohne Strom und damit auch ohne Radio, Fernsehen und andere Unterhaltungselektronik. Ihre Dörfer sind meist nur per Kanu zu erreichen. Und noch etwas prädestinierte sie für die Musik-Studie: “Die Tsimane sind besonders interessant, weil es in ihrer Musik keine Harmonien, Polyphonie oder Gruppengesänge gibt”, erklären die Wissenschaftler. Insofern sind diese Menschen im Gegensatz zu uns kulturell nicht auf eine Vorliebe für Harmonien vorgeprägt. Für ihre Studie spielten McDermott und seine Kollegen mehr als 100 Tsimane verschiedenen Tonintervalle vor – mal gemeinsam erklingend, mal nacheinander, mal gesungen, mal von einem Instrument erzeugt. Vom jeweiligen Zuhörer wollten die Wissenschaftler jeweils wissen, wie angenehm oder unangenehm für ihn das Intervall klingt. Das gleiche Experiment führten die Forscher anschließend mit Bewohnern einer bolivianischen Kleinstadt und der Hauptstadt La Paz durch, sowie mit US-Bürgern, die entweder selbst ein Instrument spielten oder nicht.
Keine Vorliebe bei den Tsimane
Das Ergebnis: “Wir haben festgestellt, dass sich die Vorliebe für konsonante gegenüber dissonanten Klängen deutlich zwischen diesen fünf Gruppen unterscheidet”, sagt McDermott. Am eindeutigsten fiel das Urteil der amerikanischen Musiker aus: Sie bewerteten harmonische Klänge nahezu durchgehend als angenehmer, ähnlich die amerikanischen Nichtmusiker. Deutlich geringer, aber durchaus noch signifikant war die Vorliebe für Konsonanzen bei den Bolivianern. Die Tsimane jedoch reagierten völlig anders als alle anderen Gruppen: Für sie klangen konsonante und dissonante Klänge gleich angenehm oder unangenehm. Sie sahen in diesen Intervallen ästhetisch gesehen keinen Unterschied – egal ob die Töne zusammen erklangen oder nacheinander. Konnte dies vielleicht daran liegen, dass die Tsimane den Unterschied schlicht nicht hören konnten? Um das auszuschließen, führten die Forscher weitere Tests durch, die jedoch alle das gleiche Ergebnis hatten: Die Tsimane nehmen die Unterschiede zwischen Konsonanz und Dissonanz durchaus wahr und hören auch, wenn sich Töne durch überlagernde Schwingungen “reiben”. Dennoch zeigen sie keine ausgeprägte Vorliebe für bestimmte Intervalle.
“Unsere Studie deutet darauf hin, dass die Vorliebe für Konsonanz höchstwahrscheinlich nicht angeboren ist”, konstatieren McDermott und seine Kollegen. Auch harmonische Klänge der Natur, wie beispielweise Vogelrufe, scheinen keinen Einfluss auf das musikalische Grundempfinden zu haben. “Stattdessen ist diese weitverbreitete Vorliebe offenbar durch den Kontakt mit der westlichen Musikkultur geprägt”, so McDermott. “Die Kultur spielt demnach für unsere ästhetische Reaktion auf Musik eine dominante Rolle.”