Träume können verwirrend, angsteinflößend oder traumhaft schön sein – doch welche psychologische Funktion haben sie? Eine Studie legt nun nahe, dass die Antwort auf diese Frage unter anderem vom Kulturkreis abhängt. Die indigene Bevölkerung Afrikas träumt demnach anders als Menschen aus Industrienationen. Während bei den Träumen von Menschen aus afrikanischen Jäger-und Sammler-Kulturen oft lebensbedrohliche Situationen im Vordergrund stehen, die durch soziale Unterstützung bewältigt werden, geht es in den Träumen von Menschen aus dem globalen Norden eher um die Konfrontation mit eigenen Ängsten.
Nacht für Nacht erleben wir eine halluzinatorische Erfahrung: Wir träumen. Mal können wir uns lebhaft an zahlreiche Details erinnern, mal wissen wir nicht einmal mehr, dass wir überhaupt geträumt haben. Aber warum träumen wir eigentlich? Sind unsere nächtlichen Halluzinationen einfach ein bedeutungsloses Nebenprodukt von Verarbeitungsprozessen im Gehirn? Oder erfüllen sie eine evolutionär bedeutsame Funktion, etwa, indem sie uns auf bestimmte Ereignisse in unserem Leben vorbereiten?
Wie Indigene träumen
„Die Frage nach der Funktion von Träumen beschäftigt die Wissenschaft seit langem“, erklärt ein Team um David Samson von der University of Toronto in Kanada. „Die meisten Studien dazu wurden allerdings nur im globalen Norden durchgeführt, was die Aussagekraft begrenzt.“ Um kulturübergreifende Vergleiche zu ziehen, haben Samson und sein Team nun auch die Träume von Angehörigen zweier indigener Volksgruppen untersucht: den BaYaka aus der Republik Kongo und den Hadza aus Tansania. Bei beiden handelt es sich um traditionell lebende Jäger-Sammler-Gemeinschaften.
Insgesamt 896 Träume von 234 Menschen aus diesen beiden Volksgruppen erfassten die Forschenden mit Hilfe von Traumtagebüchern. Dabei fragte ein Feldforschungsteam die Teilnehmenden jeweils morgens, ob sie sich an Träume erinnern können und wenn ja, welche Situationen, Personen und Tiere darin vorkamen. Zudem sollten sie ihre Emotionen während des Traums beschreiben und einordnen, ob sie den Traum insgesamt als positive oder negative Erfahrung erlebt haben. Als Vergleich zogen Samson und sein Team Daten aus früheren Studien heran, die die Träume von Menschen aus Kanada, Belgien und der Schweiz untersucht hatten, darunter auch von Menschen mit psychischen Erkrankungen und Alptraumstörungen.
Hilfe durch die Gemeinschaft
Das Ergebnis: „Wir haben festgestellt, dass die Träume der BaYaka und Hadza sehr dynamisch sind“, berichtet Co-Autor Lampros Perogamvros von der Universität Genf. „Sie beginnen oft mit einer lebensbedrohlichen Gefahrensituation, enden aber mit der Bewältigung dieser Bedrohung – oft in Form von sozialer Unterstützung.“ Beispielsweise träumte eine indigene Person, im Busch von einem Büffel angefallen zu werden, dann aber von einem Mitglied der Gemeinschaft gerettet zu werden. Diese Träume sind zwar zu Beginn angsteinflößend, werden aber durch die positive emotionale Auflösung meist nicht als negativ erlebt.
„Die BaYaka und Hadza haben in ihren Gemeinschaften sehr starke soziale Bindungen“, erklärt Samson. „Im Vergleich zu den eher individualistischen Gesellschaften in Europa und Nordamerika sind das tägliche Leben und die Arbeitsteilung in der Regel egalitärer. Diese Art von sozialer Bindung und Vertrauen in die Gemeinschaft scheint dafür zu sorgen, dass die Bedrohungen in Träumen emotional am besten über soziale Beziehungen verarbeitet werden.“ Durch die starke soziale Komponente erfüllen die Träume der BaYaka und Hadza demnach eine besonders ausgeprägte Funktion der emotionalen Regulierung.
Kulturelle Unterschiede
Menschen aus Europa und Nordamerika berichteten dagegen häufig von Träumen, die mit persönlichen Ängsten verbunden waren – etwa, dass ein naher Angehöriger stirbt, der Partner einen verlässt oder man in einem Aufzug stecken bleibt und abstürzt. Dem Forschungsteam zufolge kann diese Art von Träumen dabei helfen, sich mit den eigenen Ängsten auseinanderzusetzen und sie besser zu bewältigen. „Andererseits fehlt vor allem bei Menschen, die unter Alpträumen oder sozialen Ängsten leiden, oft die emotionale Auflösung, die Träume enden also nicht erlösend“, sagt Perogamvros. „In diesen Fällen scheint die adaptive Funktion des Träumens unzureichend zu sein.“
Bei psychisch gesunden Menschen können Träume der Studie zufolge jedoch wirksam dabei helfen, Emotionen zu regulieren, indem sie potenzielle Bedrohungen mit einem angstfreien Kontext verknüpfen und so helfen, negative Emotionen zu reduzieren. Dabei scheinen die Lösungsansätze in gemeinschaftsorientierten indigenen Gemeinschaften andere zu sein als in individualistisch geprägten Industrienationen. „Die vorliegende Studie zeigt, dass es eine starke Verbindung zwischen unserem soziokulturellen Leben und der Funktion von Träumen gibt“, so die Forschenden.
Quelle: David Samson (University of Toronto, Kanada) et al., Scientific Reports, doi: 10.1038/s41598-023-43319-z