Die Rolle von Stress bei Essstörungen ist offenbar komplexer als bisher angenommen. Das zeigt eine neue Studie mit Bulimie- und Anorexie-Patientinnen. Im Widerspruch zu gängigen Theorien veränderte Stress nicht die Fähigkeit der Probandinnen, Aufgaben zur hemmenden Selbstkontrolle zu lösen. Auch ihr Essverhalten blieb von stressigen Situationen unbeeinflusst. In Hirnscans zeigte sich allerdings, dass bestimmte Regionen, die an der Selbstkontrolle beteiligt sind, bei Menschen mit Essstörungen abweichend aktiviert werden.
Fressattacken sind ein charakteristisches Symptom verschiedener Essstörungen, darunter Bulimie und bestimmten Formen der Magersucht. In vielen Fällen folgt auf die übermäßige Nahrungsaufnahme ein absichtlich herbeigeführtes Erbrechen. Betroffene erleben das Essen in solchen Situationen oft als unkontrollierten Prozess, bei dem sie das Gefühl haben, ihre aktuelle Handlung nicht stoppen zu können. Wissenschaftler gingen bisher davon aus, dass das sogenannte Binge-Eating eine Folge von Stress ist, der bei den Betroffenen zu Schwierigkeiten mit der Selbstkontrolle führt.
Gestörte Selbstkontrolle unter Stress?
Diese Theorie hat ein Team um Margaret Westwater von der University of Cambridge nun erstmals an Patienten getestet. „Unsere Ergebnisse zeigen faszinierende Veränderungen der Stressreaktionen und der hemmenden Funktionen im Zusammenhang mit Essanfällen, aber sie machen deutlich, dass stressbedingte Ausfälle der hemmenden Kontrolle keine ausreichende Erklärung für unkontrolliertes Essen sind“, schreiben die Forscher.
Für ihre Studie untersuchten sie 85 junge Frauen, davon 22 magersüchtig, 33 mit Bulimie und 30 Kontrollpersonen ohne Essstörung. Zwei Tage verbrachten die Probandinnen im Forschungsinstitut, wobei ihre Nahrungsaufnahme kontrolliert wurde. Nach einem festgelegten Frühstück absolvierten sie eine Aufgabe zur hemmenden Selbstkontrolle. Auf einem Bildschirm sahen sie dabei einen wachsenden Balken, den sie, sobald er eine Linie auf dem Bildschirm überschritt, per Kopfdruck stoppen sollten. In einigen Fällen stoppte der Balken aber bereits von selbst vorzeitig, sodass die Testpersonen ihren Impuls, den Knopf zu drücken, unterdrücken mussten. Ihre Hirnaktivität wurde währenddessen mit funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) aufgezeichnet.
Unterschiedliche Reaktionen im Gehirn
Nach dieser ersten Versuchsrunde setzten die Forscher einen Teil der Probandinnen bewusst unter Stress: Sie mussten Kopfrechenaufgaben lösen und erhielten dabei immer wieder leichte, aber unvorhersehbare Elektroschocks. Zusätzlich sagten ihnen die Forscher, wenn sie die Aufgaben nicht gut genug lösten, würden sie aus der Studie ausgeschlossen, und gaben ihnen das Feedback, ihre Leistung sei unterdurchschnittlich. Im Anschluss an diese Stresssituation sollten die Probandinnen erneut die Aufgabe mit dem Balken absolvieren. Da bei dieser Aufgabe die hemmende Selbstkontrolle entscheidend ist, wäre nach der gängigen Theorie zu erwarten gewesen, dass die gestressten Probandinnen schlechter abschnitten.
Zur Überraschung der Forscher beeinflusste Stress die Leistung jedoch weder bei den Bulimie- und Anorexie-Patientinnen noch bei den Kontrollpersonen. Die Gehirnaktivität unterschied sich allerdings tatsächlich abhängig davon, ob die Probandinnen unter Stress standen oder entspannt waren – und zwar je nach Essstörung auf verschiedene Weise. Das Gehirn von Frauen mit Bulimie wies eine erhöhte Aktivität im Gyrus frontalis superior (SFG) auf, einer Region im präfrontalen Kortex, die an der Selbstkontrolle beteiligt ist. Andere Hirnregionen, darunter der prämotorische Kortex, waren dagegen schwächer aktiv. „Diese stressinduzierten Erhöhungen der SFG-Aktivität kompensierten möglicherweise die gleichzeitige Abnahme der prämotorischen Aktivität, wodurch die Aufgabenleistung erhalten blieb“, vermuten die Forscher. Insgesamt zeigten die Bulimie-Patientinnen jedoch unabhängig von ihrem Stresslevel die schlechtesten Leistungen bei der Balken-Aufgabe.
Bei magersüchtigen Patientinnen war die Aktivität im präfrontalen Kortex dagegen herabgesetzt. „Das könnte die Folgen von lang anhaltendem, extremem Stress widerspiegeln, ausgelöst durch ein signifikant zu niedriges Gewicht, das verschiedene kognitive und neuroendokrine Störungen hervorruft“, so die Forscher.
Direkte Effekte auf das Essverhalten getestet
Um zusätzlich den direkten Effekt auf das Essverhalten zu erfassen, bot das Forschungsteam den Frauen nach Beendigung der Aufgaben ein All-you-can-eat-Buffet an und sagte, sie könnten so viel oder wenig essen wie sie wollen. Die Frauen, die zuvor die Stress-Aufgabe durchlaufen hatten, waren zu diesem Zeitpunkt noch immer in einem Stresszustand – und damit gemäß bisheriger Theorien anfälliger für unkontrollierte Essanfälle. Dennoch zeigte keine der Probandinnen übermäßiges Essverhalten. Insgesamt nahmen die Personen mit Essstörungen bei dem Buffet weniger Kalorien zu sich als die Kontrollpersonen. Die Forscher können allerdings nicht ausschließen, dass die ungewohnte Umgebung und die Beobachtung Fressattacken unwahrscheinlicher gemacht haben, als sie unter natürlichen Bedingungen gewesen wären.
„Unsere Arbeit macht deutlich, dass die Beziehung zwischen Stress und Binge-Eating sehr kompliziert ist“, sagt Westwaters Kollege Paul Fletcher. „Es geht um die Umgebung um uns herum, unseren psychologischen Zustand und wie unser Körper uns signalisiert, dass wir hungrig oder satt sind. Um Menschen zu helfen, die von Essstörungen betroffen sind, müssen wir einen ganzheitlichen Ansatz zur Erforschung dieser Krankheiten wählen.“
Quelle: Margaret Westwater (University of Cambridge, UK) et al., Journal of Neuroscience, doi: 10.1523/JNEUROSCI.2853-20.2021