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Herkunft prägt Orientierungsfähigkeiten

Kognitionsforschung

Herkunft prägt Orientierungsfähigkeiten
Ob Menschen in stark geordneten Siedlungsstrukturen wie in Chicago (links) aufgewachsen sind oder aber in mehr „organischen“ wie in Prag (rechts), spiegelt sich in ihren Orientierungsfähigkeiten wider. © Ed Manley

Das Umfeld, in dem Menschen aufwachsen, prägt offenbar die Entwicklung ihres Orientierungsvermögens, geht aus einer Studie hervor: Menschen, die ihre Kindheit in eher ländlicher Umgebung verbracht haben, besitzen im Durchschnitt bessere Navigationsfähigkeiten als diejenigen, die aus Städten stammen – insbesondere solchen mit gitterförmigen Straßennetzen. Demnach wirkt sich offenbar eine höhere strukturelle Komplexität günstig auf die Entwicklung des Orientierungsvermögens aus, erklären die Forscher.

Wie und wo Menschen gerade leben, kann sie bekanntlich stark prägen: Zahlreiche Studien belegen, dass die kulturellen und geografischen Merkmale des aktuellen Umfeldes die kognitiven Fähigkeiten und das psychische Befinden von Meschen beeinflussen. Weniger untersucht ist hingegen, wie sich frühere Lebensumstände ausgewirkt haben – das Umfeld, in dem Personen ihre Kindheit und Jugend verbracht haben. Das internationale Forscherteam um Hugo Spiers vom University College London hat sich dabei nun dem Aspekt der Fähigkeit von Menschen gewidmet, sich räumlich zurechtzufinden.

Ihre Studienergebnisse basieren auf der Auswertung von Daten aus einem Citizen-Science-Projekt der neurowissenschaftlichen Forschung, dessen Grundlage das Handyspiel „Sea Hero Quest“ bildet. Dabei sind bei Wegfindungsaufgaben die Navigationsfähigkeiten der Teilnehmer gefragt: Sie sollen ein Fahrzeug durch verschiedenartige virtuelle Umgebungen navigieren, um auf einer Karte angezeigte Kontrollpunkte zu finden. Frühere Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die realen Navigationsfähigkeiten eines Menschen in den Leistungen bei diesem Spiel widerspiegeln.

Spielerisch generierte Daten

Für die aktuelle Studie haben Spiers und seine Kollegen die Ergebnisse von knapp 400.000 Teilnehmern aus 38 Ländern ausgewertet, die “Sea Hero Quest” beziehungsweise eine abgewandelte Form gespielt haben. Für das Citizen-Science-Projekt hatten die Testpersonen zudem verschiedene persönliche Informationen abgegeben – unter anderem, wo sie aufgewachsen sind. So konnten die Wissenschaftler auch die strukturelle Komplexität des Wegesystems der jeweiligen Heimat erfassen. Dazu kam ein wissenschaftliches Werkzeug zum Einsatz, das Zugang zur Topologie des Straßennetzes in der ganzen Welt ermöglicht.

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Wie die Forscher berichten, zeichnete sich in den Datenauswertungen ab: Unabhängig vom aktuellen Lebensort beeinflusste das Umfeld der Kindheit und Jugend der Teilnehmer ihre Leistung im Spiel. Grundsätzlich zeigten sie dabei ihre besten Leistungen in virtuellen Spielumfeldern, die denen ihrer ursprünglichen Heimat ähnelten. Unterm Strich wurde allerdings deutlich, dass Personen, die in Städten aufgewachsen sind, im Durchschnitt schlechtere Navigationsfähigkeiten besitzen als diejenigen, die ursprünglich aus ländlichen oder suburbanen Umgebungen stammen. Letztere konnten sich auch vergleichsweise gut in Levels des Spiels zurechtfinden, die eine eher komplexe Umgebung aufwiesen. “Wir haben somit aufgezeigt, dass das Aufwachsen außerhalb von Städten gut für die Entwicklung von Navigationsfähigkeiten zu sein scheint“, sagt Spiers.

Der Grad der „Unordnung“ scheint prägend

Dass dies offenbar mit der Komplexität des jeweiligen Umfeldes verknüpft ist, belegten weitere Studienergebnisse. Die Forscher verglichen dabei den Grad der „Unordnung“ – der sogenannten Entropie der Straßennetzsysteme – in den Heimatorten der Studienteilnehmer. Dabei zeigte sich, dass Personen, deren Heimatstädte eine geringere Entropie, also vergleichsweise geordnete Rasterstrukturen aufweisen, schlechter in der Lage waren, die Orientierungsaufgaben zu lösen. Ausgeprägte Beispiele solcher urbanen Strukturen finden sich dabei in den USA – etwa in Chicago oder New York. Personen, die in „organisch“ strukturierten Städten aufgewachsen waren – mit weniger geordneten Straßenverläufen, wie etwa in Prag – schnitten hingegen nur geringfügig schlechter ab als Personen, die aus ländlichen Gegenden stammen.

Die Stärke des festgestellten Zusammenhangs verdeutlicht dabei ein Vergleich zum Faktor Alter. Denn bereits relativ früh im Erwachsenenalter beginnen die räumlichen Orientierungsfähigkeiten zu schwinden, sagt Spiers: „Wir haben festgestellt, dass Menschen, die in Gebieten mit einem geordneten Straßennetz aufgewachsen sind, über vergleichbare Navigationsfähigkeiten verfügen wie fünf Jahre ältere Menschen aus ländlichen Gebieten”, so der Wissenschaftler.

Vermutlich hat der Zusammenhang mit einem nachhaltigen Trainingseffekt zu tun, sagen die Forscher: “Wenn man an einem Ort mit einem komplexeren Straßen- oder Wegesystem aufwächst, könnte dies die Navigationsfähigkeiten verbessern, da man vergleichsweise intensiv die Richtung im Auge behalten muss. Denn es müssen eher Abzweigungen in verschiedenen Winkeln eingeschlagen werden und man muss sich auch mehr Straßen und Orientierungspunkte merken“, sagt Co-Autor Antoine Coutrot von der Universität Lyon. Den Forschern zufolge sollten nun allerdings weitere Untersuchungen mehr Licht auf die Frage werfen, wie sich die Effekte in der Kindheit herausbilden.

Quelle: University College London, Fachartikel: Nature, doi: 10.1038/s41586-022-04486-7

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