Er leistete Erstaunliches in Kunst, Wissenschaft, Philosophie… Leonardo da Vinci war ein faszinierendes Universalgenie – allerdings mit einer markanten Schwäche: Er tat sich schwer damit, seine Werke zu vollenden. Dazu sagt nun ein Experte des King’s College London: Die Kombination der Eigenschaften Leonardos lässt sich am besten damit erklären, dass er an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) litt. Neben der Neigung zum Aufschieben könnte ADHS durchaus auch ein Faktor für Leonardos außergewöhnliche Kreativität und Leistungsfähigkeit gewesen sein, sagt der Wissenschaftler.
Vermutlich werden nun einige erst einmal von dieser „Diagnose“ überrascht sein, denn das gängige Klischee zu ADHS scheint zunächst kaum zu Leonardo zu passen. „Es gibt ein weit verbreitetes Missverständnis, dass ADHS typisch für ein schlechtes Benehmen von Kindern und Jugendlichen mit geringer Intelligenz ist, die später meist Probleme im Leben bekommen“, sagt Marco Catani. Doch dabei handelt es um eine sehr einseitig negative Darstellung, erklärt der Spezialist für die Behandlung von ADHS. Die Störung kann in unterschiedlichen Formen sowie in Kombinationen mit anderen Merkmalen auftreten und ist auch nicht an die Jugend gekoppelt, betont der Wissenschaftler.
Obwohl sich ADHS häufig in der Kindheit bemerkbar macht, wird die Störung nun zunehmend auch bei Erwachsenen diagnostiziert, einschließlich Studenten und Menschen mit einer erfolgreichen Karriere, sagt Catani. Welche Ursachen diese Erkrankung hat, ist bis heute nur in Teilen geklärt. Es zeichnet sich aber ab, dass ADHS mit einem Mangel des Botenstoffs Dopamin im Gehirn verknüpft ist. Neben deutlichen persönlichen Variationen gibt es charakteristische Verhaltensauffälligkeiten, mit denen es Betroffene oft zu tun haben: Sie neigen zum Aufschieben von bestimmten Aktivitäten, sie haben Schwierigkeiten damit, Aufgaben abzuschließen, ihre Gedanke schweifen oft ab und sie sind sowohl körperlich als auch geistig unruhig.
Charakterstiche Symptome
Und damit schließt sich nun der Kreis zu Leonardo da Vinci (1452 bis 1519): Wie Catani erklärt, zeichnet sich das von Kindheit an unstete Wesen des Renaissance-Promis in Überlieferungen deutlich ab. Aus Berichten von Biographen und Zeitgenossen geht hervor, dass Leonardo ständig getrieben wirkte und oft von einer Aufgabe zur nächsten sprang. Wie für ADHS typisch, hat er den Berichten zufolge auch sehr wenig geschlafen: Unterbrochen von kurzen Nickerchen hat er oft Tag und Nacht gearbeitet. Dies führte aber nicht unbedingt zu hoher Produktivität – im Vergleich zu anderer Renaissance-Künstlern wie etwa Raphael hat da Vinci nur wenige Werke fertiggestellt. Viele Künstlerkollegen und Förderer wie Papst Leo X. haben sein unberechenbares Verhalten und seine Neigung, unvollendete Projekte zu hinterlassen, kritisch kommentiert.
Wie Catani berichtet, gibt es zudem indirekte Hinweise darauf, dass Leonardos Gehirn im Vergleich zum Durchschnitt ungewöhnlich organisiert war. So ist etwa bekannt, dass er Linkshänder und Legastheniker war. Zudem zeichnet sich ab, dass er im Gegensatz zur Norm seine rechte Hirnhälfte für die Sprachverarbeitung nutzte. Alle diese Merkmale findet man auch auffallend häufig bei Menschen mit ADHS, so Catani.
Die vielleicht markanteste Eigenschaft von Leonardo da Vinci war jedoch seine unersättliche Neugier, die allerdings ebenfalls zwei Seiten hatte: Sie trieb sowohl seine Kreativität an, lenkte ihn aber auch ab. Dies könnte Catani zufolge ebenfalls mit dem vermuteten ADHS verknüpft gewesen sein. Positiv hat sich wohl die Neigung zum Schweifenlassen der Gedanken auf die Kreativität und Originalität Leonardos ausgewirkt. Dies war in der Anfangsphase des kreativen Prozesses sicherlich günstig. Später könnte diese Neigung dann aber auch eine Vollendung von Projekten blockieren haben, wenn sich das Interesse des Tausendsassas auf etwas anderes verlagerte.
Genie trotz und wegen ADHS
„Es ist zwar eigentlich nicht möglich, jemandem, der vor 500 Jahren gelebt hat, eine Diagnose zu stellen, aber ich bin überzeugt, dass ADHS die wissenschaftlich plausibelste Erklärung darstellt, warum Leonardo Schwierigkeiten bei der Fertigstellung seiner Werke hatte“, resümiert Catani. Wie er erklärt, spiegelt sich dieses Prinzip auch in seinen Erfahrungen mit ADHS-Patienten wider: „Die meisten Erwachsenen, die ich in meiner Klinik sehe, waren kluge, intuitive Kinder, entwickeln aber später im Leben Symptome von Angstzuständen und Depressionen, weil sie ihr Potenzial nicht ausgeschöpft haben“, so Catani.
Dazu passt erneut eine Überlieferung über Leonardos Gedanken am Ende seines Lebens: Er soll unglücklich darüber gewesen sein, dass er Gott und die Menschheit beleidigt habe, in dem er sich nicht genug um seine Kunst gekümmert hat. „Es wirkt erstaunlich, dass Leonardo sich offenbar als jemand betrachtete, der in gewisser Weise gescheitert ist. Ich hoffe, dass sein Fall zeigt, dass ADHS nicht mit einem niedrigen IQ oder mangelnder Kreativität zusammenhängt, sondern mit der Schwierigkeit, die eigenen Talente zu nutzen. Ich würde mich freuen, wenn Leonardos Vermächtnis uns dabei helfen könnte, das Stigma im Zusammenhang mit ADHS zu ändern“, sagt Catani abschließend.
Quelle: King’s College London, Brain, doi: 10.1093/brain/awz131