Seit rund 50 Jahren lässt die Bundesregierung Energieprognosen erstellen – und jedes Mal liegen die Experten weit daneben. Das hat Knut Kübler, ein Fachmann im Ruhestand, in der Zeitschrift “Energiewirtschaftliche Tagesfragen” zusammengestellt . Ein Beispiel: Ende der 1990er-Jahre sagten die Institute Prognos und EWI im “Energiereport III” für das Jahr 2015 rund 21 Terawattstunden Strom aus Windkraft und Fotovoltaik voraus. Tatsächlich wurden es sechs Mal so viel, was den Marktanteil von Erdgas und Kohle verringerte. Und Kübler schreibt: “Ohne die Reform des EEG im Jahr 2014, die darauf abzielte, die Förderung der Erneuerbaren Energien zurückzufahren, wäre der Prognosefehler vermutlich sogar noch größer ausgefallen.”
Kübler will aber nicht die Experten kritisieren. Manches – nicht zuletzt die Havarie von Fukushima – war nicht vorherzusehen. Ihm geht es vor allem darum, wie die Politik mit den Prognosefehlern umgehen sollte. “So schwer es auch sein mag”, schreibt Kübler, “man muss zur Kenntnis nehmen, dass Fehlprognosen, Fehlbewertungen und Fehlentscheidungen in der Energiepolitik Deutschlands immer wieder gute Freunde waren. Warum sollte das heute und morgen anders sein?” Die Empfehlung des Autors: Die Politik solle “wendig” bleiben. Das klingt nach Opportunismus, doch es ist etwas anderes gemeint: “das politische Handeln und die konkreten Maßnahmen immer wieder an den sich verändernden Daten ausrichten”. Denn: “Wichtiger als vermeintlich populäre Hoffnungen ist doch das, was man wirklich hat”.
Warnung vor dem Propheten
Auf den Artikel hat mich André Thess gebracht, der das Institut für Technische Thermodynamik des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt leitet . Er zieht daraus einen ähnlichen Schluss für die Wissenschaft: “Verantwortungsbewusste Energieforschung darf sich nicht darauf beschränken, das Energiesystem der Zukunft vorherzusagen.” An seinem Institut werden daher verschiedene Ansätze parallel erforscht – um offen zu bleiben für die tatsächliche Entwicklung. Thess nimmt sich an den TV-Meteorologen ein Beispiel: “In der Tagesschau werden nicht nur die Temperaturprognosen gezeigt, sondern auch ein Fehlerkorridor, der sich von Montag auf Freitag weitet.”
In dieselbe Kerbe schlägt auch der Historiker Joachim Radkau von der Universität Bielefeld, der in seinem neuen Buch “Geschichte der Zukunft” die Prognosen und Visionen Nachkriegsdeutschlands rekonstruiert. Er gibt am Ende zehn Ratschläge für einen besseren Umgang mit Prognosen. Dazu zählen das Eingeständnis der Unsicherheit und die regelmäßige Überprüfung der Prämissen. Er empfiehlt auch Strategien auszuwählen, die mehrere Vorteile vereinen, damit sie auch dann noch nützlich sind, wenn sich die Prognose als falsch erweist. Den Fahrradverkehr in Städten zu fördern hilft zum Beispiel nicht nur beim Klimaschutz. Und trotzdem bricht Radkau am Ende eine Lanze für Prognosen und sogar Visionen: Mancher visionäre Zukunftsentwurf bringe sehr handfeste Vorteile im Hier und Jetzt, schreibt er, und manche apokalyptische Warnung lasse sich in Sorge umdeuten – und damit in Fürsorge.