Ob Allah, der Gott der Christen oder das Karma des Buddhismus: Viele große Weltreligionen beinhalten Gottheiten oder spirituelle Konzepte mit klaren moralischen Regeln. Wann und warum sich solche moralisierenden Religionen jedoch entwickelt haben, war bisher strittig. Jetzt zeigt die bisher umfangreichste Studie dazu: Entgegen gängiger Hypothese entwickelten die meisten frühen Kulturen solche übernatürlichen Moralinstanzen nicht bevor sie zur Hochkultur wurden, sondern erst danach. Solche Religionen waren demnach nicht die Triebkraft für die Entwicklung komplexer Gesellschaften, sondern eher ihr Kitt: Sie sorgten dafür, dass diese Sozialgebilde auf Dauer stabil blieben.
In Religionen wie dem Christentum, Judentum und im Islam gibt es klare Gebote und einen übermächtigen Gott. An ihm orientieren sich die moralischen Richtlinien, nach der die Anhänger leben. Und ihrem Glauben nach bestraft die Gottheit Verstöße gegen die göttlichen Regeln. Eine verwandte Variante sind buddhistische Religionen, in denen zwar kein Gott, wohl aber das Karma Fehlverhalten bestraft. Doch längst nicht alle Religionen sind so stark moralisch geprägt. Viele Naturvölker glauben eher an hilfreiche Geister oder an Götter, die zwar Verehrung fordern, sich aber weniger in die menschlichen Dinge “einmischen”. Das Auffallende daran: Religionen mit starken moralisierenden Gottheiten haben sich vor allem in den letzten Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte ausgebreitet, wie Harvey Whitehouse von der University of Oxford und seine Kollegen erklären.
Moralische Götter als Entwicklungshilfe?
Aus dieser Beobachtung erwuchs die Hypothese, dass eine übernatürliche Moralinstanz möglicherweise eng mit der Entwicklung komplexer Gesellschaften verknüpft war. “Man nimmt an, dass der Glaube an ein moralisches Handeln forderndes übernatürliches Wesen die Kooperation zwischen Fremden in großen Gruppen vereinfachte”, erklären die Forscher. Denn in den komplexen Gesellschaften der ersten Hochkulturen kannte nicht mehr jeder jeden und ein gemeinsamer Glaube könnte das Misstrauen gegenüber Fremden gemindert haben. Hinzu kommt, dass eine solche moralische Instanz auch eine wirksame Abschreckung gegenüber “Sozialschmarotzern” dargestellt haben könnte – eine solche Religion brachte Menschen eher dazu, sich an den gesellschaftlichen Aufgaben zu beteiligen. Soweit die Theorie. Doch ob diese Form der Religion tatsächlich der entscheidende Motor für die Entwicklung komplexer Gesellschaften war, ist strittig – auch weil bisherige Studien widersprüchliche Ergebnisse lieferten.
Um mehr Klarheit zu schaffen, haben Whitehouse und sein Team nun standardisierte historische Daten für 414 Gesellschaften in 30 verschiedenen Regionen der Erde ausgewertet. Die zeitliche Spanne dieser Kulturen reicht von der Jungsteinzeit bis zum Beginn der industriellen Revolution. Jede dieser Gesellschaften analysierten die Forscher auf 51 kulturelle und soziale Parameter hin und erstellten daraus einen Index der gesellschaftlichen Komplexität. Er spiegelt unter anderem wider, wie bevölkerungsreich und ausgedehnt die Kultur war, welche gesellschaftliche Struktur sie hatte, aber auch kulturelle Errungenschaften wie Schrift, urbane Infrastrukturen oder Währungssysteme. Weitere Parameter nutzten die Forscher um zu ermitteln, ob und wann diese Kulturen moralisierende Religionen entwickelten.
Erst nach dem Sprung zur Megagesellschaft
Es zeigte sich: Obwohl Gesellschaften in allen 30 untersuchten Regionen Rituale durchführten und an übernatürliche Wesen glaubten, entwickelten sich nur in 20 davon moralisierende Gottheiten. “Das erste Auftreten moralisierender Götter in unserer Probe war in Ägypten, wo das Konzept einer übernatürlichen Vollstreckung von Ordnung (Maat) um 2800 vor Christus dokumentiert ist”, berichten Whitehouse und seine Kollegen. Dem folgten weitere lokale Moral-Religionen in Mesopotamien, Anatolien und China. Als die Forscher sich die zeitliche Entwicklung dieser Religionen im Kontext der jeweiligen Kulturen genauer ansahen, zeigte sich jedoch Überraschendes: In der Regel entwickelten sich die moralisierenden Religionen immer erst dann, wenn eine Kultur die Schwelle zur Megagesellschaft mit mehr als einer Million Menschen überschritten hatte.
“Wir stellen fest, dass moralisierende Götter dem Entstehen komplexer Gesellschaften nicht vorangehen, sondern erst danach auftreten”, berichten Whitehouse und sein Team. “Die Rate der Zunahme der sozialen Komplexität war vor dem Erscheinen der moralisierenden Götter im Schnitt fünfmal größer als danach.” Nach Ansicht der Wissenschaftler spricht dies dafür, dass der Glaube an strafende, moralische Regeln durchsetzende Götter keine Voraussetzung für die Entwicklung komplexer Gesellschaften war. Stattdessen sehen sie in diesen Religionen eher eine Art Kitt, der diese sozialen Gefüge auf Dauer stabilisierte. “Diese Religionen könnten eine kulturelle Anpassung repräsentieren, die nötig war, um die Kooperation in solchen Gesellschaften aufrechtzuerhalten, nachdem sie einmal eine gewisse Größe überschritten hatten”, so die Forscher.
Quelle: Harvey Whitehouse (University of Oxford) et al., Nature, doi: 10.1038/s41586-019-1043-4