Während der Coronapandemie wurden die meisten Schulen zeitweise geschlossen. Wie sich das auf den Lernstand ausgewirkt hat, zeigt nun eine Metaanalyse von 42 Studien aus 15 Ländern. Demnach machen die Lernrückstände durchschnittlich rund ein Drittel des Lernwertes eines Schuljahres aus – und wurden bislang nicht wieder aufgeholt. Die größten Defizite haben Kinder mit niedrigem sozioökonomischem Status. Damit bestätigen die Ergebnisse, dass die Pandemie die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland und anderen Ländern verschärft hat.
Mehr als 1,6 Milliarden Schüler in 190 Ländern konnten laut Angaben der Vereinten Nationen aufgrund der Covid-19-Pandemie zeitweise nicht zur Schule gehen. Vielerorts etablierten die Schulen Fernunterricht. So wurde das heimische Wohnzimmer zum behelfsmäßigen Lernort und der Computer zur Schnittstelle für den Kontakt zu Lehrkräften und Klassenkameraden. Gerade Kinder aus Familien mit geringem Einkommen, die zu Hause keine ruhige Lernumgebung und keinen eigenen Computer hatten, blieben dabei jedoch oft auf der Strecke.
Zahlreiche Studien aus verschiedenen Ländern der Welt haben sich bereits damit beschäftigt, wie sich die Coronapandemie auf den Lernstand ausgewirkt hat. Ein Team um Bastian Betthäuser von der Universität Sciences Po in Paris hat nun in einer Metaanalyse die Ergebnisse von 42 Studien aus 15 Ländern ausgewertet. Die meisten der einbezogenen Studien stammten aus Großbritannien und den USA, vier stammten aus Deutschland. Weitere berücksichtigte Länder waren die Niederlande, Belgien, Italien, Australien, Brasilien, Dänemark, Kolumbien, Mexiko, Südafrika, Spanien, Schweden und die Schweiz. Alle einbezogenen Studien wurden zwischen März 2020 und August 2022 veröffentlicht, sodass die Autoren insgesamt einen Zeitraum von 2,5 Jahren Pandemie betrachten konnten.
Mathe schlechter als Lesen
„Unsere Analyse zeigt, dass die Schüler durch die Pandemie im Durchschnitt 35 Prozent des Lernwerts eines Schuljahres verloren haben“, berichten die Autoren. „Der Lernfortschritt von Kindern im Schulalter hat sich während der Pandemie deutlich verlangsamt.“ Dabei stellten Betthäuser und seine Kollegen fest, dass sich die größten Defizite bereits in den ersten Monaten der Pandemie manifestierten. „Man hätte annehmen können, dass die Kinder in der Lage waren, die zu Beginn der Pandemie verlorenen Lerninhalte wieder aufzuholen, nachdem Lehrer und Familien Zeit hatten, sich an die neuen Lernbedingungen anzupassen, und nachdem Strukturen für das Online-Lernen und die Aufarbeitung früher Lerndefizite geschaffen worden waren“, so die Autoren. Die Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass sich die zu Beginn der Pandemie entstandenen Bildungslücken zwar im weiteren Pandemieverlauf nicht wesentlich vergrößert, aber auch noch nicht wieder geschlossen haben.
Besonders in Mathematik bauten die Schüler während der Pandemie große Defizite auf, während ihre Fortschritte im Lesen weniger unter dem Fernunterricht litten. „Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Eltern besser in der Lage sind, ihren Kindern beim Lesen zu helfen, und dass die Kinder ihre Lesefähigkeiten (nicht aber ihre mathematischen Fähigkeiten) verbessern, wenn sie außerhalb der Schule zum Vergnügen lesen“, vermuten die Betthäuser und seine Kollegen. Zwischen den Klassenstufen stellten sie dagegen keine Unterschiede fest. „Man könnte erwarten, dass die Lerndefizite bei älteren Kindern geringer sind als bei jüngeren, da ältere Kinder möglicherweise autonomer lernen und besser in der Lage sind, mit einer plötzlichen Veränderung ihres Lernumfelds umzugehen“, so die Autoren. Dieser mögliche Vorteil sei aber dadurch ausgeglichen worden, dass in manchen Ländern ältere Schüler länger nicht in die Schule gehen durften als jüngere.
Bildungsungerechtigkeit verschärft
Die Analyse zeigt auch, dass die Pandemie bestehende Bildungsungerechtigkeiten verschärft hat. Zum einen waren die festgestellten Lernrückstände in Ländern mit mittlerem Einkommen wie Brasilien und Mexiko, Kolumbien und Südafrika deutlich größer als in Ländern mit hohem Einkommen. Zu Ländern mit niedrigem Einkommen fanden die Autoren keine Studien, die sie in die Analyse einbeziehen konnten. Sie gehen aber davon aus, dass die Pandemie dort noch verheerendere Einflüsse auf die Schulbildung gehabt hat. „In Ländern mit niedrigem und mittleren Einkommen sind die wirtschaftlichen Ressourcen, die Verfügbarkeit digitaler Lernmittel und die Fähigkeit von Kindern, Eltern, Lehrern und Regierungen, das Lernen von zu Hause aus zu unterstützen, geringer“, erklären die Forscher.
Zum anderen hat auch in Ländern mit hohem Einkommen besonders die Bildung derjenigen Kinder gelitten, die es schon vor der Pandemie schwer hatten. Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status haben nicht nur in der Homeschooling-Phase weniger gelernt, sie haben auch weniger Ressourcen, um die fehlenden Lerninhalte wieder aufzuarbeiten. Klaus Zierer von der Universität Augsburg, der nicht an der Studie beteiligt war, befürchtet, dass sich eine „Generation Corona“ bilden wird. „Je geringer die Lernleistungen sind, desto schwieriger wird es für die Lernenden, die von den Curricula geforderten Standards zu erreichen“, sagt er. „Das trifft insbesondere die jüngsten im System mit einem bildungsfernen Hintergrund aus wirtschaftlich schwachen Ländern.“
Politische Maßnahmen gefordert
Wichtig seien daher zielgerichtete politische Maßnahmen, um die Bildungslücken auszugleichen. „Aus Forschungen wissen wir, dass sich Lerndefizite leider schnell kumulieren und daher immer größer werden. Je früher es gelingt, gegenzusteuern, desto besser ist es“, so Zierer. Eine Möglichkeit seien beispielsweise Sommerschulen. „Studien haben gezeigt, dass sie bei allen Kindern und Jugendlichen positiv wirken – vor allem aber auch bei Lernenden aus bildungsfernen Milieus“, sagt Zierer. „Hier könnte von der Forschung und den bestehenden Konzepten weltweit profitiert werden.“
Quelle: Benjamin Betthäuser (Science Po, Paris, Frankreich) et al., Nature Human Behaviour, doi: 10.1038/s41562-022-01506-4