Allerdings hatte die Menschheit natürlich auch schon mit anderen Pandemien zu kämpfen – der Pest, den Pocken oder der Cholera etwa. So lässt sich auch mit einem Blick auf Vergangenes und Überstandenes doch einiges in Bezug auf grundsätzliche Auswirkungen von Pandemien auf die Gesellschaft ableiten.
Pandemien – Brenngläser für bestehende Tendenzen in einer Gesellschaft
Jede Gesellschaft tendiert im sozialen, politischen und ökonomischen Bereich in bestimmte Richtungen. Diese Tendenzen machen sich häufig aber erst bemerkbar, wenn es zu bestimmten Ereignissen kommt oder wenn bestimmte Probleme gelöst werden müssen. Ein solches Problem kann eine Pandemie wie die derzeitige COVID-19-Pandemie sein. Pandemien fungieren dann auch als Brenngläser für die bestehenden Tendenzen in einer Gesellschaft – sie heben sowohl die positiven, als auch negativen Entwicklungen und Trends hervor.
Jede Pandemie fördert in der Regel vor allem im sozialen Bereich positive Eigenschaften in vielen Menschen zutage. Sie ergreifen Eigeninitiative – selbst, wenn sie zur Gefahrengruppe gehören. So kennt fast jeder jemanden, dessen Oma Schutzmasken näht; wenn es nicht sogar die eigenen Verwandten sind. Außerdem solidarisieren Menschen sich in Krisenzeiten stärker, als gewöhnlich. Und sie zeigen Bereitschaft, gemeinsam aktiv zu werden, um die Schwächeren in einer Gesellschaft zu schützen.
Doch auch negative Eigenschaften werden während Pandemien verstärkt. Aktuell lässt sich beobachten, dass rassistische Anfeindungen und Übergriffe auf ausländisch aussehende Mitbürger zunehmen. Man fürchtet sich vor “Einschleppungen des Virus von außen”. US-Präsident Trump nennt den Virus gar in verachtender Weise “china virus” – der Virus komme eben aus China, kommentiert er.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass während Pandemien fast immer auch derlei negative Stereotype und Vorurteile verstärkt werden und alles vermeintlich Fremde als Bedrohung kategorisiert wird. In der Weimarer Republik sowie im Dritten Reich schob man Osteuropäern und Juden die Schuld für die Ausbreitung von Fleckfieber und Pocken in die Schuhe. Als sich das HIV-Virus mit Beginn der 1980er Jahre stärker ausbreitete, nahm die Diskriminierung von Homosexuellen noch weiter zu. Diese Vorfälle sind keine Ausnahmen, sondern bestätigen die Regel der Tendenzverstärkung unter der Last einer Krise.
Die Bedeutung von Eingriffen durch den Staat
Während Pandemien wie der derzeitigen muss der Staat zum Schutz aller bestimmte Maßnahmen ergreifen. Kontaktverbote oder -beschränkungen, sowie geschlossene Restaurants, Cafés und Läden und Reiseverbote sind heute typische Maßnahmen. Sie sollen verhindern, dass sich mehr Leute anstecken und sich Viren und Krankheiten verbreiten können.
Bei vergangenen Pandemien – früher oft verallgemeinert einfach als Pestilenzen bezeichnet – wurden ähnliche Maßnahmen ergriffen. Auch im Mittelalter etwa isolierte man Kranke und mied soziale Kontakte in der Bevölkerung so gut es ging. Auch damals wurden schon Einrichtungen, wie Gasthäuser, Badehäuser oder Schulen und Universitäten gesperrt, in denen es zum Zusammentreffen besonders vieler Menschen kommen konnte.
Parallelen zu heutigen Eingriffen des Staates lassen sich auch was die Beratung durch Fachwissenschaftler und Experten angeht, beobachten. So erforschten auch zu Zeiten der Pest im 16. Jahrhundert schon Universitäten Ursachen für die Seuche und Möglichkeiten, ihr zu begegnen. Heute sind es Virologen und Epidemologen, aber auch Sozialwissenschaftler oder Hirnforscher und Ethikräte, die dem Staat unterstützend und beispielsweise in Form von Orientierungshilfen zur Seite stehen.
Fest steht jedenfalls, dass der Staat seinen Einfluss zur Eindämmung einer Pandemie ausdehnt und in das Leben der Menschen eingreift. Im Jahr 1807 etwa führte das Königreich Bayern die Impfpflicht gegen Pocken ein. Vor allem in den digitalen Medien kursieren seit Längerem auch Gerüchte von einer eventuellen Impfpflicht gegen das Coronavirus. Mehr Verschwörungstheorien denn je greifen um sich. Die deutsche Politik betont allerdings, dass es solch eine Impfpflicht nicht geben werde. Jeder entscheide selbst, ob er sich, im Falle eines erfolgreich entwickelten Impfstoffes, impfen wolle oder nicht.
Pandemien und die Klassenfrage
Die Maßnahmen, die der Staat in Pandemiezeiten einleitet, betreffen alle. Allerdings sind die sozialen Milieus ohne Zweifel in unterschiedlicher Weise betroffen. Mit der Zeit der Spätmoderne (etwa ab den 1970ern/ 80ern) brach auch die Zeit der Drei-Klassen-Gesellschaft an.
Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz ist der Überzeugung, dass diese sich heute in folgender Form beobachten lässt: Eine neue Mittelklasse besteht vor allem aus Menschen mit einem hohen kulturellen Kapital und meist akademischen Bildungsabschlüssen. Sie arbeitet vorwiegend im Feld der Wissens- und Kulturökonomie. Die zweite Klasse ist die traditionelle Mittelklasse. Es handelt sich dabei um eine alte, nicht-akademische Mittelklasse, die sich aus dem alten Bürgertum sowie aus aufgestiegenen Arbeiter*innen und kleinen Angestellten zusammensetzt. Die dritte Klasse ist eine neue geringqualifizierte Dienstleistungsklasse, in der sich ein Drittel der prekär oder nicht beschäftigten Menschen befindet.
In Zeiten von Pandemien, wie der derzeitigen COVID-19-Pandemie ist interessant zu sehen, dass bestimmte Subsegmente der jeweiligen Klassen krisenfester sind, als andere. Natürlich steht der gesamte deutsche Mittelstand vor einigen Herausforderungen. Doch manch einer ist eben deutlich stärker, als der andere betroffen. Wer etwa aus der neuen deutschen Mittelschicht in akademischen Berufen tätig ist, kann seine Arbeit mitunter einfach an den heimischen Schreibtisch verlagern. Künstler, Musiker und andere Kulturschaffende hingegen haben es deutlich schwerer – einige Existenzen stehen auf der Kippe.
Innerhalb des Dienstleistungssektors findet ebenfalls eine ähnliche Spaltung statt: Infrastrukturberufe, also etwa alle Dienstleistungen, bei denen es um die Grundversorgung geht, kommen in der Regel sicher durch die meisten Pandemien. Schließlich werden Kassierer*innen und Liferant*innen derzeit genauso von Balkons beklatscht, wie Ärzte und Ärztinnen, Virolog*innen und Krankenschwestern. Für diese Dienstleistungen aus der Pflege, der Sicherheit, dem Reinigungs- oder Transportsektor und der Lebensmittelversorgung kann eine Pandemie sogar zu einer ökonomischen und symbolischen Aufwertung führen. Während “normaler” Zeiten sind derlei Berufe gesellschaftlich oft unsichtbar. Doch in Krisenzeiten zeigt sich, dass wir alle auf sie angewiesen sind.
Der Verkehrsbereich oder auch die Gastronomie und Hotellerie sowie das Wellness- oder Beautygewerbe dagegen leiden enorm unter Pandemien. Viele Menschen, die in Berufen tätig sind, bei denen es auf engen Kundenkontakt ankommt oder die auf kurzfristige Nachfrage angewiesen sind, stehen auf derzeit vor dem Nichts.
Führen Pandemien zu medizinischem Fortschritt?
Bevor die Cholera-Epidemien in den 1830er Jahren um sich griffen, gab es verschiedene Arten von Ausbildungen für Mediziner, die einem heute als deutlich überholt vorkommen. Die einen absolvierten Handwerkerlehren an Patienten, lernten, wie man operiert und Patienten akut behandelt und erhielten damit den Namen “Wundärzte”. Die zweite Gruppe wiederum bildete sich aus akademischen Medizinern. Sie erhielten an Universitäten lateinischen Unterricht und hatten während ihrer gesamten Ausbildung eigentlich kaum mit Menschen zu tun.
Im Zuge der Cholera-Pandemien änderte sich dieser Zustand. Um die Bevölkerung gesund halten zu können, beschloss man, dass alle Ärzte auch am Patienten zu unterrichten waren. So sollte jeder Arzt jeden Kranken auch praktisch behandeln können.
Auch die Spanische Grippe führte zu medizinischem Fortschritt. Als sie im Jahr 1918 unzählige Menschen das Leben kostete, brachte die Pandemie doch immerhin die Virologie voran. Viruskrankheiten, wie etwa das Gelbfieber und die Pocken waren zwar vor der Verbreitung der Spanischen Grippe bereits in der Medizin bekannt. Allerdings begann man erst im Zuge ebenjener Viren selbst genauer zu erforschen und zu untersuchen. Kaum mehr als zehn Jahre nach dem Ausbruch der Spanischen Grippe ließen sich Viren mit dem Elektronenmikroskop sichtbar machen. Und in den 1940er Jahren wurden schließlich auch schon Menschen gegen die Grippe geimpft.
Von Polarisierung zu Verschwörung
Pandemien sorgen auch immer zu Polarisierungen in einer Gesellschaft. Während sich häufig der Großteil der Menschen solidarisiert und gemeinsam stark macht, um auch mit Unterstützung und Umsetzung der staatlichen, schnell die Zustände zu ändern, werden auch andere Stimmen laut. Kritik an zu strengen Regulierungen, Verboten und Einschränkungen greift um sich. Nicht immer, aber natürlich auch von beruflich Betroffenen, die unter den staatlichen Einschränkungen teils massiv leiden.
Diverse Meinungen führen zu gesellschaftlichen Diskursen, die gerade in Krisenzeiten von großer Relevanz sind. Sie erwirken unter Umständen soziale oder gar medizinische Veränderungen und Entwicklungen ins Positive. Das hat die Geschichte gezeigt. Doch Pandemien sind auch immer ein ganz besonders fruchtbarer Nährboden für Verschwörungstheorien.
Wie bereits erwähnt wurden zu Zeiten der Pest im Mittelalter Juden hinter der Ausbreitung der tödlichen Infektionskrankheit vermutet. Auch der Nationalsozialismus konnte nur über ähnliche Verschwörungstheorien so funktionieren, wie er stattfand. In der frühen Neuzeit bezichtigte man auch Hexen der Schuld, für die Entstehung und Verbreitung diverser Krankheiten verantwortlich zu sein. Und auch zu Zeiten des Zikavirus oder der Aids-Welle blühten diverse Verschwörungstheorien auf. Menschen, die Angst haben, die verzweifelt sind oder das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren, tendieren häufig dazu, Muster zu sehen, wo keine Muster sind. Pandemie-Zeiten sind deshalb natürlich besonders betroffen.
15.06.20220