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Aschenputtels Trauma

Gesellschaft|Psychologie

Aschenputtels Trauma
Es ist ganz normal, dass Eltern ihren Nachwuchs ab und zu ungleich behandeln. Wer allerdings ständig zu kurz kommt, leidet manchmal noch sein Leben lang darunter.

Als Charles Dickens’ ältere Schwester Francis auf die Royal School of Music geschickt wurde, er stattdessen als Hilfsarbeiter in einer Fabrik für Schuhpolitur anheuern musste, war ganz offensichtlich: Francis war das Lieblingskind der Eltern. Schließlich war es Anfang des 19. Jahrhunderts unüblich, dass Mädchen eine gute Ausbildung bekamen. Noch als Erwachsener litt der Schriftsteller sehr unter der elterlichen Ungleichbehandlung: „Meine ganze Natur war so durchdrungen von der Trauer und der Erniedrigung, dass ich auch heute noch, wo ich berühmt, gefeiert und glücklich bin, verzweifelt auf diese vergangene Zeit zurückblicke.” Im Roman „David Copperfield” hat Charles Dickens einige seiner bedrückenden Erlebnisse verarbeitet.

Der Stoff ist aus der Bibel bekannt (Jakobs Söhne), und auch Märchen (Aschenputtel) greifen ihn auf. Im Alltag ist das Thema jedoch tabu. Kein Vater und keine Mutter geben offen zu, dass der ältere Sohn der Liebling ist oder das kleine Töchterchen der Augenstern. „Weil von den Eltern erwartet wird, dass sie ihre Kinder gleich behandeln”, erklärt Hartmut Kasten, emeritierter Pädagogik- und Psychologieprofessor am Institut für Frühpädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München.

70 Prozent Lieblingskinder

Die elterliche Ungleichbehandlung ist derzeit eine Art Lieblingskind der Entwicklungspsychologen. „Favoritismus” nennen sie das Phänomen. Etliche Untersuchungen bestätigen: Viele Eltern haben Lieblingskinder. In einer Studie des Soziologen Karl Pillemer von der Cornell University in Ithaca gaben 2010 etwa 70 Prozent der Mütter an, dass sie sich einem ihrer Kinder näher fühlen. Gleichzeitig sagten nur 15 Prozent der Kinder, dass die Mutter sie gleich behandele. Über 700 Erwachsene und deren Mütter hatten an der „Within-Familiy-Differences”-Studie teilgenommen.

Wenn man Kinder und Jugendliche befragt, scheint es in 65 bis 70 Prozent der Familien ein bevorzugtes Kind zu geben. Das fand die Soziologin Katherine Conger von der University of California in Davis heraus. „Allerdings stammen diese Zahlen nur aus Befragungen, nicht aus langfristigen Beobachtungsstudien. Sie sind also mit Vorsicht zu genießen”, warnt Kasten.

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Auch der Münchner Geschwisterforscher Hartmut Kasten ist davon überzeugt, dass das Phänomen weit verbreitet ist. Allerdings trete es meist nur phasenweise auf. Der Psychologe hat beobachtet: In rund 90 Prozent der Familien gibt es immer mal wieder ein Lieblingskind, das besonders viel Zuneigung und Zeit von den Eltern bekommt. Nur bei den restlichen 10 Prozent der Familien werden Kinder dauerhaft ungerecht und weniger liebevoll behandelt. Mutter und Vater sind strenger und ungeduldiger, oder sie beschäftigen sich nicht so oft mit dem weniger geliebten Kind, schenken ihm weniger Zärtlichkeit, sind sparsamer mit Lob oder vergleichen es ständig mit anderen, „tolleren” Kindern.

Gift in der Seele

Solche Kinder haben es später schwer im Leben. Denn: Wird jemand über Jahre hinweg als Schwarzes Schaf behandelt, hinterlässt das tiefe Spuren in seiner Psyche. Noch die Erwachsenen berichten von Wut und Enttäuschung. „Es träufelt wie Gift in die Seele der Kinder, beeinträchtigt ihre Persönlichkeitsentwicklung und ihre Fähigkeit, ein glückliches Leben zu führen”, sagt Kasten. So zeigten Studien, dass benachteiligte Kinder häufiger von Angst, Furcht, Scham und Einsamkeit gequält werden. Zudem fallen sie häufiger durch Depressionen, psychosomatische Beschwerden, Aggression, Delinquenz, antisoziales Verhalten oder Ungehorsam auf. Und sie wählen häufiger den Freitod als Lieblingskinder.

„Das vernachlässigte Kind will ständig als etwas Besonderes gesehen werden, es kämpft um Anerkennung”, berichtet Ellen Weber Libby, die als Psychologin in Washington mit vielen Betroffenen gearbeitet hat und darüber in ihrem Buch „The favorite child” berichtet. Dabei spielt es laut der Within-Familiy-Differences-Studie keine Rolle, ob die Mutter oder der Vater zu ungerechter Erziehung neigt. Am schlimmsten sind natürlich diejenigen Kinder dran, die von beiden Eltern benachteiligt werden. Auch wenn die Großeltern ein Kind besonders favorisieren oder Erzieherinnen und Lehrer, hat das Folgen – wenngleich nur in abgeschwächter Form.

Favoritismus verschlechtert die gesamte Atmosphäre in der Familie. Wenn ein Kind als „Sonnenschein” behandelt wird, treibt das auch einen Keil zwischen die Geschwister – sie streiten sich mehr und spielen weniger zusammen. Im Erwachsenenalter steigt zwar das Harmoniebedürfnis, die Rivalitäten bestehen aber weiter. Karl Pillemer meint: „Das weniger geliebte Kind hegt Ressentiments gegen den Elternteil, der bevorzugt, und auch gegen das Lieblingskind.” Häufig sind solche Familien so zerrüttet, dass über Jahre hinweg kein Kontakt zwischen den Kindern oder zu den Eltern besteht.

Auf den ersten Blick erscheint das Leben als Lieblingskind wie ein Sechser im Lotto: Es bekommt nicht nur mehr Anerkennung, sondern später auch mehr finanzielle Unterstützung von den Eltern und hat meist bessere Erfolgschancen im Leben. Ellen Weber Libby berichtet: „Diese Menschen haben ein besseres Selbstwertgefühl und meist keine Angst vor Herausforderungen.”

Mitleid und Schuldgefühle

Doch auch der bevorzugte Sprössling leidet. Es muss negative Gefühle wie Hass und Trauer der anderen Geschwister aushalten. In einigen Studien gaben die Lieblingskinder an, dass sie diese negativen Gefühle erwiderten, andere sagten, dass sie Schuld und Mitleid gegenüber dem Schwarzen Schaf spürten. „Zudem lasten auf dem Lieblingskind hohe Erwartungen”, sagt Karl Pillemer. Es versucht dauernd, den Ansprüchen der Eltern gerecht zu werden, und bekommt ebenfalls oft Schwierigkeiten, seine Persönlichkeit zu entwickeln. „Daraus kann sich eine Depression entwickeln”, hat Libby beobachtet.

Und es können Beziehungsprobleme entstehen, weil diese Menschen das Gefühl plagt, dass sie vom Partner nicht so sehr geliebt werden, wie dies Mutter oder Vater taten. „Das übersehene Kind, das nicht dauernd gefallen muss, hat es womöglich leichter, seinen Weg zu finden”, sagt Libby. Trotzdem, da sind sich die Psychologen einig, ist es insgesamt schlechter dran.

Die Gründe für Favoritismus sehen die Forscher in der Biologie, genauer beim Drang jedes Lebewesens, sich erfolgreich zu reproduzieren (siehe Kasten „Lieblinge im Tierreich”). Und weil man Schönheit und Gesundheit gemeinhin mit Fruchtbarkeit assoziiert, werden oft die hübscheren Kinder favorisiert. Allerdings hat das Phänomen beim Menschen auch kulturelle Komponenten. Bevorzugt wird häufig, wer pflegeleicht oder besonders intelligent ist, weil das ein gutes Licht auf die Eltern wirft und sie stolz macht. Zudem fühlen sich manche Mütter einer Tochter näher, die ihnen sehr ähnlich ist. Andere fasziniert, wenn ein Kind ganz anders ist als sie selbst, in der Hoffnung, dass ihm in seinem Leben das gelingt, von dem man selbst geträumt hat. Wieder andere Elternteile handeln ungerecht, weil sie selbst das Aschenputtel der Familie waren und daraus nichts gelernt haben. Als Folge nimmt manchmal der andere Elternteil das weniger geliebte Kind in Schutz und macht es zu seinem Liebling. Auch ein krankes Kind erfährt oft mehr Fürsorge als seine Geschwister. Während die Mutter den ältesten Sohn häufig favorisiert, verhätscheln Väter eher die jüngste Tochter. „ Sandwich”- Kinder, deren Alter dazwischen liegt, gehören dagegen selten zu den Lieblingen.

Kinder haben gute Antennen

Den Missstand zu beheben, ist nicht einfach, da die meisten leugnen, dass sie eines oder mehrere Kinder unfair behandeln. Dabei wäre dies zum Vorteil aller, meint Hartmut Kasten: „Wenn man sich eingesteht, dass man ein Lieblingskind hat, dann ist der erste Schritt getan.” Bundesfamilienministerin Kristina Schröder genau wie der Autor Jeffrey Kluger raten zwar dazu, die stärkere Zuneigung den anderen Kindern zu verheimlichen. „Doch das ist kaum möglich”, sagt Hartmut Kasten. „Die Kinder haben besondere Antennen.”

Glücklicherweise geht es in den meisten Familien weitgehend gerecht zu, schließt Hartmut Kasten aus seinen Forschungen. Bevorzugung gibt es nur phasenweise – etwa wenn ein Kind längere Zeit krank ist oder wenn ein Bruder oder eine Schwester in der Pubertät zum verbockten Monster mutiert. Manche Eltern können mehr mit Babys und Kleinkindern anfangen, andere finden es spannender, mit älteren Kindern durch die Natur zu wandern. „Das ist aber ganz normal und für die Kinder nicht mit Nachteilen verbunden”, meint Kasten. Eltern könnten das Ideal der Gleichbehandlung zu jeder Zeit gar nicht erfüllen.

Und auch Gleichbehandlung kann ungerecht sein, etwa wenn ein älteres Geschwister zur gleichen Zeit wie das jüngere ins Bett geschickt wird. „Überzogener Gerechtigkeitssinn bewirkt oft das Gegenteil. Die Kinder rechnen dann bei jeder Gelegenheit haarklein auf, wer, wann, was zu wenig bekommen hat”, schreibt Andrea Bischoff im „Lexikon der Erziehungsirrtümer”.

Wichtig ist, dass die Eltern ihren Kindern die Gründe für eine zeitweilige Ungleichbehandlung erklären. Bereits in einer US-Studie aus dem Jahr 1997 wurde deutlich: Bei den beteiligten 61 Kindern war das Geschwisterverhältnis vor allem dann nicht getrübt, wenn die Benachteiligten das unterschiedliche Verhalten der Eltern nachvollziehen konnten, es als „fair” bezeichneten.

Wenn Kinder sich beschweren, sollten die Eltern das auf jeden Fall nicht einfach abtun. „Schließlich ist die Auffassungsgabe gerade von 6- bis 10-jährigen Kindern ungemein gut”, betont Hartmut Kasten. Wenn man merkt, dass sich ein Kind vernachlässigt fühlt, sollte man versuchen, das zu ändern, etwa indem man mehr mit dem Kind unternimmt. „Ausschlaggebend ist letztlich ein Gefühl, das Eltern immer vermitteln sollten: dass sie ihre Kinder lieben”, betont Kasten. „Auch wenn der Kontakt in manchen Lebensphasen vielleicht etwas lockerer ist.” ■

KATHRIN BURGER kennt solche Probleme aus ihrer Familie. Ihr Vater war Omas Liebling, ihre Tante Opas Liebling. Schließlich wurde die Tante sogar von der Oma enterbt.

von Kathrin Burger

Kompakt

· Auch wenn Eltern kaum darüber sprechen: Viele von ihnen haben ein Lieblingskind.

· Meist geschieht die Bevorzugung aber nur phasenweise.

· Permanente Gleichbehandlung kann sogar ungerecht sein.

Lieblinge im Tierreich

Pinguin-Mütter schubsen zu kleine Eier aus dem Nest. Schwarze Adler sehen scheinbar ungerührt zu, wenn eines ihrer gerade geschlüpften Jungen das andere zu Tode hackt. Auch im Tierreich gibt es Favoritismus. Der Grund ist der Überlebenswille der Tiere. Damit die Arterhaltung gewährleistet ist, bevorzugen die Eltern im Tierreich oft das dickste und gesündeste Kind. Denn es hat die besten Chancen, sich erfolgreich gegen Feinde zu verteidigen und fortzupflanzen. Ein anderer Grund können die Ressourcen der Eltern sein: Die Nahrung einer Pandamutter etwa reicht gerade für so viel Milch, dass sie ein einziges Kind säugen kann. Auch Nahrungsknappheit kann bei Tieren zu Ungleichbehandlung der Brut führen. In Notzeiten werden nur die Stärkeren mit Nahrung versorgt. Allerdings verfolgen Tierarten, die in einem Wurf viele Kinder haben, eine andere Strategie: So füttern Blesshuhn-Mütter bevorzugt die schwachen Küken, um möglichst viele Nachkommen durchzubringen.

Mehr zum Thema

LESEN

Jeffrey Kluger The Sibling Effect What the bonds among brothers and sisters reveal about us Riverhead Books, 2012, € 14,40

Ellen Weber Libby The favorite child How a favorite impacts every family member for life Prometheus, Amherst, 2010, € 14,99

INTERNET

Homepage des Familienforschers Hartmut Kasten: www.hartmut-kasten.de

Aufsatz im Familienhandbuch von Dieter Ferring: www.familienhandbuch.de/cms/ Familienforschung-Ungleichbehandlung.pdf

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