Kam die Kunst tatsächlich wie ein universaler “Urknall” über die Menschheit, ohne Entwicklung? Der Professor für Anthropologie im italienischen Lecce hat nach jahrzehntelanger Forschung für die Unesco eine Bestandsaufnahme aller bekannten Fels- und Höhlenmalereien gefertigt. Seine These einer explosiven Kunstidee ist kühn, seine Wanderung durch “40000 Jahre intellektueller Abenteuer des Menschen” verlockend, “interessant für alle, die sich Fragen stellen”. Doch: Kann Anati die Kunst-Geburtsfrage wirklich beantworten?
Europas älteste Gemälde (34000 Jahre) schmücken die Grotte Chauvet in Südfrankreich. Die global ältesten wurden in Südafrika gefunden und auf rund 40000 Jahre datiert. Allerdings gibt es Konkurrenz in Australien, wo Steingravuren auf 75000 Jahre taxiert werden. Diese Datierung ist noch umstritten – stimmt sie, bricht das aktuelle Anthropologen-Weltbild zusammen.
Die anfaßbaren Hinterlassenschaften unserer Vorfahren aus dem Dämmer der Menschheitsgeschichte – meist Werkzeuge, aber auch Schmuck und Statuetten – summieren sich auf 100000 Stücke. Dagegen kennt man heute 20 Millionen Felsmalereien – in aller Welt und ziemlich gleichmäßig verteilt. In Europa konzentrieren sie sich in Bulgarien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Island, Italien, Jugoslawien, Norwegen, Österreich, Portugal, Spanien, Schweden, Schweiz und Rußland.
In der Unzahl der Zeichnungen und Gravuren fand er grundlegende Gemeinsamkeiten: – Felskunst ist “eine Erscheinung von nicht-städtischen und nicht-gebildeten Völkern”. – Die Kunstproduktion massiert sich in Gebieten, die heute Wüste oder Halbwüste sind. – Landschafts- und Pflanzendarstellungen, Horizont und Boden fehlen fast vollständig. – Die Felskunst versickert in Gesellschaften mit komplexen Wirtschaftssystemen, sie bleibt die Kommunikationsform der Jäger- und Sammlersozietäten.
Vier Millionen Jahre zuvor war der erste Hominide auf dieser Erde aufgetaucht, vor zwei Millionen hatte dieser die ersten veritablen Werkzeuge geformt, vor 100000 Jahren begann er, seine Toten zu beerdigen – ein erster Ausdruck intellektueller Überlegung. Vor 50000 Jahren betrat Homo sapiens die Bühne, nach Anati ein Wesen mit eigener “Logik”, verhängnisvoller Neugier und einer “reichen Innenwelt von Anfang an”. Dies gab ihm den Wunsch und die Fähigkeit, “sich etwas vorzustellen, zu synthetisieren und zu visualisieren”. Das Ergebnis: Kulte, Kultorte und Kunst.
Jenseits der heißen Diskussionen über die inhaltliche Deutung der Felskunst (Jagdzauber, Schamanismus) deklariert Anati diese alles “mitreißende Explosion künstlerischer Kreativität” zu einer weltumspannenden visuellen Sprache, die aus heute verschütteten Erinnerungen, Erlebnissen und Mythen der frühen Menschheit gespeist wurde. Deshalb weist die darstellende Kunst in den ersten 30000 bis 40000 Jahren “auf der ganzen Welt ähnliche Merkmale” auf – Logik, Stil und Thematik des Homo sapiens waren universell. Mit Ackerbau und Viehzucht, mit der Seßhaftwerdung vor 9 000 Jahren also, begann die Verwirrung der visuellen Sprache: Die Kunst “entwickelte” sich.
Und die “primitive” Kunst zuvor? Urknall oder fortschreitendes Können? Die Frage steht immer noch. Denn eines ist sicher: Scheinbar anfängerhafte Höhlenbilder liefern keinen Beweis, sie stehen oft zeitgleich neben vollendeten Meisterwerken. Und der banale Handumriß ist nicht primitiver als das galoppierende Pferd. Auch unter den prähistorischen Künstlern gab es geniale und weniger geübte.
Dennoch: “Ich neige eher zu der Meinung, daß es beim Homo sapiens kein Big Bang war”, zieht Jean Clottes Bilanz. Der französische Papst der Höhlenmalerei zählt auf: Vor 120000 Jahren trat der moderne Mensch in Afrika auf, vor 90000 in Palästina und erst vor 40000 in Europa – “das sind Zeitspannen, in denen muß sich etwas getan haben”. Vielleicht auf Materialien, die sich nicht erhalten haben, Holz zum Beispiel: “Diese Entwicklungsschritte”, da ist sich Jean Clottes sicher, “werden wir noch finden.”