Die ersten Vertreter des Homo sapiens entwickelten sich vor rund 300.000 Jahren. Doch wo der älteste Urahn unserer Spezies lebte und wie genau er aussah, ist bislang unklar – auch, weil es bisher nur wenige und sehr verschieden aussehende frühe Homo-sapiens-Fossilien gibt. Doch nun haben Forscher eine virtuelle Rekonstruktion erstellt, die das mögliche Aussehen des Ur-Homo-sapiens durch anatomische Vergleiche von 263 fossilen und modernen Schädeln zeigt. Demnach könnte unser aller Urahn bereits einen erstaunlich modernen, eher zierlichen Schädel besessen haben. Das virtuelle Modell erlaubt zudem erste Rückschlüsse auf die Entstehung dieses gemeinsamen Vorfahren aller Homo-sapiens-Formen.
Der Stammbaum des Menschen ist komplex und lückenhaft: Sowohl in der Ära der Vor- und Frühmenschen als auch beim frühen Homo sapiens scheint es viele ganz unterschiedliche Varianten gegeben zu haben, deren Verwandtschaft und Position im Stammbaum oft unklar ist. So glaubte man lange Zeit, dass die ersten Vertreter des Homo sapiens erst vor rund 200.000 Jahren in Süd- oder Ostafrika entstanden – bis dann 2017 im marokkanischen Jebel Irhoud ein gut 300.000 Jahre altes Fossil eines frühen Menschen gefunden wurde. Erschwerend kommt dazu, dass sich alle bisher bekannten Homo sapiens-Fossilien anatomisch deutlich unterscheiden: Der Schädel aus Marokko ähnelt in manchen Aspekten eher dem Neandertaler, während die 160.000 bis 200.000 Jahre alten Schädelfunde im äthiopischen Omo und Herto dem modernen Menschen schon sehr ähnlich sind. Andere frühe Fossilien des Homo sapiens zeigen dagegen ein Mosaik aus archaischen und modernen Merkmalen.
Virtueller Schädel des allerersten Homo sapiens
Diese Vielfalt macht es schwer herauszufinden, wie der allererste Vertreter unserer Spezies ausgesehen haben könnte – der letzte gemeinsame Vorfahre aller Homo sapiens-Varianten. Um dieses Problem zu umgehen, haben nun Aurelien Mounier vom Nationalen Museum für Naturgeschichte in Paris und Marta Lahr von der University of Cambridge einen statistisch-anatomischen Ansatz gewählt: Mithilfe eines Computerprogramms verglichen sie die anatomischen Details von 263 Schädeln aus 29 verschiedenen Populationen des Homo sapiens, darunter acht aus der Frühzeit unserer Art. Zunächst ordneten sie die Homo sapiens-Populationen auf Basis dieser anatomischen Merkmale in einem Stammbaum ein. Diesen verglichen die Forscher dann mit einem Stammbaum unserer Spezies, der aufgrund von genetischen Merkmalen erstellt worden war. “Unsere Ergebnisse zeigen, dass die in unserer Studie genutzten phänotypischen Daten sehr gut zur genetischen Geschichte passen”, berichten Mounier und Lahr.
Im zweiten Schritt nutzten die Forscher nun die anatomischen Merkmale der verschiedenen Homo-sapiens-Formen und ihre zeitliche Einordnung, um daraus das Aussehen des letzten gemeinsamen Vorfahren aller dieser Varianten zu rekonstruieren. Das Ergebnis ist ein dreidimensionales Schädel-Modell, das die Kopf- und Gesichtsform unseres möglichen Urahns zeigt. Obwohl dieser Ur-Homo-sapiens vor mehr als 300.000 Jahre gelebt haben muss, zeigt er schon relativ viele moderne, für den Homo sapiens typische Merkmale, wie Mounier und Lahr berichten. So besaß er bereits einen runden Hirnschädel mit relativ hoher Stirn und eher schwachen Überaugenwülsten. Die Mundpartie war bei diesem ersten Homo sapiens zudem weniger vorgewölbt als bei vielen Frühmenschen. Aber auch einige noch archaische Merkmale besaß unser Urahn, darunter eine leichte Senke hinter den Brauenwülsten und einen nur schwach ausgeprägten Vorsprung am Schläfenbein.
Verzweigtes Geflecht
“Insgesamt ist die Morphologie der letzten gemeinsamen Vorfahren des Homo sapiens eher grazil und modern”, sagen die Forscher. Unser Urahn ähnelte demnach eher den 160.0000 bis 200.000 Jahre alten Fossilen aus Omo und Herto als dem älteren Schädel aus Jebel Irhoud und anderen Fossilien früher Homo-sapiens-Vertreter. Wie aber kann der Ur-Homo-sapiens moderner aussehen als die aus ihm entstandenen Varianten? Nach Ansicht von Mounier und Lahr ist mit der komplexen Evolution unserer Spezies erklärbar. Denn sie entwickelte sich nicht linear von einer Variante zur nächsten weiter, sondern bildete ein verzweigtes Geflecht vieler an ihre jeweilige Umwelt angepassten Formen. Dem Szenario der Forscher zufolge führte dies zu einer Differenzierung, die nur bei einigen Populationen des frühen Homo sapiens zu einer vollständig modernen Anatomie führte.
Hinzu kommt, dass vermutlich nicht alle Frühformen des Homo sapiens und deren Vorgänger in gleichem Maße zur Stammeslinie unserer Art beitrugen. Aufgrund ihrer anatomischen Vergleiche gehen die Forscher davon aus, dass der erste Homo sapiens aus einer Vermischung von südafrikanischen und ostafrikanischen Frühmenschen hervorging. “Ein nordafrikanischer Ursprung ist dagegen weniger wahrscheinlich, weil das Irhoud-Fossil ein anderes Ähnlichkeitsmuster zeigt”, so Mounier und Lahr. Wer allerdings genau die Vorfahren des ersten Homo sapiens waren und wo sie lebten, bleibt vorerst offen – ebenso, ob wir jemals ein Fossil des allerersten Homo sapiens finden werden.
Quelle: CNRS, Aurelien Mounier (Muséum national d’Histoire naturelle, Paris) und Marta Mirazon Lahr (University of Cambridge), Nature Communications, doi: 10.1038/s41467-019-11213-w