Der Mensch und manche Affen haben eine erstaunliche Gabe gemeinsam: Mit den drei Farbpigmenten, die in der Netzhaut ihrer Augen rote, blaue und grüne Lichtsignale auseinander halten, können diese „Trichromaten” ein Spektrum von mehr als zwei Millionen Farbtönen unterscheiden. Die meisten anderen Säugetiere wie Hunde, Katzen oder Stiere sind als „Dichromaten” auf zwei Farbpigmente – für blau und gelb – beschränkt. Entgegen dem landläufigen Vorurteil: Stiere sehen niemals rot – und auch keine anderen satten Farben. Sie nehmen die Welt nur in blassen Pastelltönen wahr.
Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans, Paviane und Brüllaffen haben das so genannte Dreifarbensehen entwickelt, um reife Früchte oder Blätter besser aufspüren zu können – so die bisherige Hypothese. Doch die hat einen Haken, moniert jetzt ein Team um den Neurobiologen Mark Changizi vom California Institute of Technology. Die Beziehung zwischen der Ernährungsweise und dem Sehen von Farben ist schwächer als zu erwarten wäre. Auch andere Affen wie Marmosetten und Tamarine stopfen sich den Bauch bevorzugt mit reifen Früchte voll – obwohl ihnen der Sinn fürs Bunte fehlt.
Was aber, wenn nicht die farbenfrohen Leckereien, sind der Grund für den visuellen Luxus? Auf der Suche nach Antworten analysierten Changizi und sein Team die Empfindlichkeitsverteilung der Farbsinneszellen (Zapfen) im Primatenauge – und machten eine verblüffende Entdeckung: Der Pigment-Mix ist überhaupt nicht auf die Farben reifender Früchte optimiert. Er besitzt vielmehr seine höchste Sensibilität für exakt die rötlichen Schattierungen, die die Gesichtshaut durch das darunter fließende Blut annimmt – etwa dann, wenn jemand vor Scham oder Zorn rot anläuft oder vor Furcht erbleicht.
Changizi und seine Kollegen sind davon überzeugt, dass unsere äffischen Ahnen die volle Farbtüchtigkeit herausgebildet haben, um wichtige soziale Signale in den „Visagen” ihrer Artgenossen lesen zu können. Denn alle können je nach Gefühlszustand mehr oder weniger rot werden. Rötliche Schwellungen sind zudem bei vielen Affen wichtige Sexsignale. Und auch beim Menschen gelten rosige Wangen als sexuell reizvoll. Für sozial lebende Menschenaffen ist es enorm aufschlussreich, wenn ein Artgenosse „ Farbe bekennt”: Das Signal ist zuverlässig, nicht aufsetzbar und fälschungssicher – und es verrät, was der andere im Schilde führt.
Auch die Frage, ob die Farbtüchtigkeit der Affen mit irgendwelchen anatomischen Merkmalen in Beziehung steht, deckte sich mit der neuen Theorie von Changizi & Co. Alle Affen, die trichromatisch Farben sehen, besitzen eine nackte Gesichtshaut oder weisen zumindest nackte Stellen im Gesicht auf. Bei ihren dichromatischen Vettern wird der Blick auf das emotionale Farbenspiel hingegen durch Fell verwehrt. „Es würde ja nichts nützen, feine Farbschattierungen auf der Haut erkennen zu können, wenn man die Haut nicht sieht”, sagt Changizi.
Dabei ist nicht allen Menschen ein farbenfrohes Dasein vergönnt. Eine Minderheit (2,1 Prozent der Männer und 0,3 Prozent der Frauen) besitzt nur zwei Farbpigmente und daher eine „ Farbsehschwäche”. Für sie ist es schwierig, Erröten und andere Gesichtssignale wahrzunehmen. Ein Problem ist das für farbsehschwache Ärzte: Sie sehen über Entzündungen und andere rote Stellen ihrer Patienten gezwungenermaßen hinweg.
Aber: Farbsehschwache sind in der Lage, auf Farbspielen basierende Tarnungen zu durchschauen, da sie nur das Muster sehen, das hinter den Farben steckt. Deshalb hatten die Spionageflugzeuge der Alliierten im Zweiten Weltkrieg häufig farbenblinde Späher an Bord, die nach getarnten Militärlagern der Nazis Ausschau hielten. ■
Rolf Degen