Schauplatz: Eine bulgarische Kleinstadt. Zwei Archäologen betreten ein Lebensmittelgeschäft. Sie staunen nicht schlecht, als sie die junge Verkäuferin sehen: Um den Hals trägt sie eine Kette aus kleinen, offenbar alten Goldperlen. Die Neugier der Forscher ist geweckt. Nach einer abenteuerlichen Suche stoßen die zwei Archäologen bei einem Dorf in der Nähe auf einen kostbaren Goldschatz.
Das Drehbuch für einen fiktiven Archäologen-Krimi? Von wegen: Die spannende Wirklichkeit einer der überraschendsten archäologischen Entdeckungen der letzten Jahre. Im Frühling 2004 waren die Archäologen in Sopot, einer bulgarischen Kleinstadt am Südhang des Balkangebirges, auf die Goldkette der Verkäuferin aufmerksam geworden. Ihr Mann hatte die Perlen beim Pflügen gefunden und sie für seine Frau zusammengefügt. Er führte die Archäologen auf die Felder des nahe gelegenen Dorfs Dabene, 120 Kilometer östlich der Hauptstadt Sofia – und die glanzvolle Entdeckung nahm ihren Lauf. Ab 2005 fanden der Archäologe Martin Christov vom Historischen Nationalmuseum Sofia und sein Team dort unter zehn künstlich aufgeschütteten Erdhügeln mehrere kleine eingetiefte Gruben. Neben Brandresten, menschlichen Knochenfragmenten und Tongefäßen lagen wertvolle Gegenstände: Bronzemesser, ein Silbergefäß mit Goldverzierungen, ein vergoldeter Silberdolch und viele goldene Schmuckteile. Am Ende der Grabungskampagne 2007 standen über 25 000 Goldteile in den Fundtagebüchern: Perlen, Scheiben, kleine Ringe, Spiralen, Zylinder und Plättchen. Das ist eine überwältigende Menge, obwohl Goldfunde in Bulgarien, dem Land der Thraker (siehe Kasten „Gut zu wissen”), keine Seltenheit sind.
Christov und sein Team staunten nicht schlecht, als sie das Alter ihrer Funde bestimmt hatten: Das Gold von Dabene stammt vom Anfang des dritten Jahrtausends vor Christus, also aus der frühen Bronzezeit, und ist damit nach Varna das zweitälteste bearbeitete Gold der Menschheit (siehe Kasten „Der schwerste und der älteste Schatz”). Die Qualität der Stücke ist einzigartig: Ein Großteil wurde aus 23-karätigem Gold gefertigt.
JUWELIERE MIT LUPEN
Die zahllosen Miniaturperlen von ein bis zwei Millimetern Durchmesser versetzen heutige Schmuckexperten in Staunen. Untersuchungen unter dem Mikroskop zeigten, dass die Perlen keinerlei Herstellungs- oder Bearbeitungsfehler aufweisen. Eine solche technische Leistung der damaligen Goldschmiede hat niemand für möglich gehalten. Die Experten sind überzeugt, dass die Herstellung und Bearbeitung nur mit einer starken Lupe möglich war. Doch dass die bronzezeitlichen Juweliere Vergrößerungsgläser verwendet haben, ist nicht belegt. Boshidar Dimitrov, Direktor des Historischen Nationalmuseums in Sofia, vermutet: Vulkanisches Glas, ein natürliches Gesteinsglas, wurde dünn geschliffen und poliert als Hilfsmittel benutzt. Gefunden hat man solche Glasstücke aber bisher nicht – und so bleibt die Herstellung der Goldperlen ein Geheimnis.
Fest steht: Herstellung und Bearbeitung der Goldgegenstände aus Dabene zeugen von einem bislang nicht geahnten hohen Entwicklungsstand von Handwerk und Kultur in dieser Region. Die Gewinnung, Verarbeitung und der Handel der beträchtlichen Goldmengen bedurften einer straffen wirtschaftlichen Organisation. Und die kostbaren Funde weisen darauf hin, dass es in der thrakischen Gesellschaft größere soziale Unterschiede und hierarchische Machtstrukturen gab.
TROJA NUR EINE KOLONIE?
Besonders erstaunte die Forscher ein weißsilbern schimmernder Dolch, denn er besteht aus einer Legierung von Gold und Platin. Aus dieser frühen Zeit ist nirgendwo auf der Welt Vergleichbares an Metallverarbeitung bekannt. Das seltene Platin ist sehr korrosionsbeständig und viel härter als Gold. Daher sind die beiden Langseiten des Dolchs noch heute rasiermesserscharf. Der Platin-Dolch war sicher kein Alltagsgegenstand. Das seltene Material und die sorgfältige Verarbeitung sprechen für seine besondere Bedeutung – als Machtsymbol des Herrschers oder als Opferwerkzeug des obersten Priesters. Bisher galt Troja als Zentrum der Goldschmiedekunst in der Ägäis des späten dritten Jahrtausends vor Christus. Schliemanns Trojanische Schätze, allen voran der „Schatz des Priamos” (um 2400 bis 2300 vor Christus) sind sichtbare Belege dafür. Doch der Schmuck aus Dabene zeigt eine technologische und künstlerische Verarbeitung auf mindestens ebenso hohem Niveau – und ist sogar noch älter. Platin-Gegenstände wurden in Troja schon gar nicht gefunden. Damit machen die Thraker den Trojanern den Rang als beste Goldschmiede streitig. Und vielleicht ist etwas dran an der provokanten Frage, die die bulgarische Thrakologin Valerija Fol angesichts der Funde von Dabene stellt: „War Troja am Ende eine Kolonie der frühen Thraker?”
In Dabene brachten die Ausgräber nur 400 Meter vom Goldschatz entfernt eine Siedlung ans Licht. Sie stammt aus der gleichen Zeit und steht mit den Grabhügeln in Beziehung. Wohnten hier die Juweliere, und wurde hier gar das Gold verarbeitet? Boshidar Dimitrov spricht von einem „frühen Klondike” und sieht in Dabene ein Zentrum der frühbronzezeitlichen Goldschmuckherstellung. Außerdem berichten antike Quellen, dass das Gebiet der nahe gelegenen Tundsha und ihrer Nebenflüsse schon seit frühen Zeiten für seine Goldvorkommen bekannt war.
GRIECHISCHE GÖTTER IN THRAKIEN
Die Befunde von Dabene werden heiß diskutiert. Strittig ist die Interpretation der Gräber: Geringe Brandspuren, wenige Knochenreste und das Fehlen von echten Bestattungen sprechen für Scheingräber. Die verstreute Lage der goldenen Einzelstücke kann Zufall sein. Oder die kostbaren Schmuckstücke wurden bei einer rituellen Zeremonie zerteilt und in die Erde gelegt. Darüber wurde dann ein steinerner Schutzmantel und zum Schluss ein Erdhügel errichtet. Im Beisein eines Priesters opferte man die Kostbarkeiten womöglich einer Gottheit. Doch das sind bloß Vermutungen. Das Gold schweigt darüber.
Über die thrakische Götterwelt geben antike Autoren des ersten Jahrtausends vor Christus Auskunft: Homer und Herodot. Sie berichten über Kulte und heilige Orte und nennen Namen und Funktionen einzelner Gottheiten. Vielfach entsprechen die Namen denen der griechischen Götter. Die Vermutung liegt nahe: Die Götter der Griechen waren thrakischen Ursprungs. Die dominierende Erscheinung in der thrakischen Götterwelt war die namenlose „ Große Muttergöttin”, die die Griechen zu ihrer Artemis machten. In Verbindung mit einem Steinkult wurde sie auf hohen Felsgipfeln verehrt. Ihr zur Seite stand ihr Sohn Zagreus, der dem griechischen Gott Dionysos entspricht. Er hatte zwei weitere Namen: Als Sabazios verkörperte er den Sonnengott, der bei den Griechen Apollon hieß. Und als Chthonos war er eine Erdgottheit. Der Überlieferung nach vollzogen die Muttergöttin und ihr Sohn die Heilige Hochzeit (Hieros Gamos), die auch von Dionysos bekannt ist. Aus dieser Vereinigung ging wiederum ein Sohn, Zalmoxis, hervor, „der auf dem Gipfel ist”. Als „Erzeugnis” der Heiligen Hochzeit gelten darüber hinaus die Göttersöhne und mythischen Könige Orpheus, der legendäre Sänger, und Rhesos, ein Verbündeter der Trojaner im Krieg gegen die Griechen.
Die thrakischen Herrscher verstanden sich als direkte Nachkommen des obersten Götterpaares – als „Sohn des Sohnes der Großen Göttin”. Daraus leiteten sie ihre doppelte Funktion in der Gesellschaft ab: König und oberster Priester. Bei der rituellen Einführung ins Amt sprach der Priesterkönig eine – aus Inschriften bekannte – heilige Formel. Dann übergab ihm die Muttergöttin die Herrschaftsinsignien: Kranz, Zepter oder Rhython (Trinkhorn). Diese Investitur-Szene ist von Wandmalereien und Goldarbeiten bekannt. „Wir wissen auch, dass in Thrakien die Sonne und ‚Liber‘ ein und dieselbe Gottheit sind, die sie [die Thraker] unter dem Namen Sebadios mit großartigen religiösen Riten ehren. Auf dem Gipfel Zilmissos ist diesem Gott ein ovales Heiligtum geweiht, dessen Dach in der Mitte offen ist.” So beschreibt der lateinische Schriftsteller Macrobius noch Anfang des fünften Jahrhunderts nach Christus eine thrakische Kultstätte.
Auf der Suche nach diesem Heiligtum führte der Weg vieler Forscher ins Rhodopen-Gebirge. 20 Kilometer nordöstlich der heutigen Stadt Kardshali erhebt sich der Perperikon. Die Ruinen eines mächtigen Festungsturms auf dem 470 Meter hohen Gebirgsgipfel ließen zunächst eine mittelalterliche Festung vermuten. Dann kamen bei ersten Ausgrabungen zwischen 1979 und 1982 römische und thrakische Funde ans Licht. Seit 2000 arbeitet sich Nikolai Ovtscharov vom Archäologischen Institut der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften durch bis zu vier Meter tiefe Kulturschichten. Die führen ihn von der türkischen Eroberung der Gipfelfestung im Jahr 1362 bis weit in die Geschichte zurück.
GEHEIMNISVOLLE FELSENMENSCHEN
Die frühesten menschlichen Spuren auf dem Gipfel fand Ovtscharov mit seinem Team in natürlichen Felsspalten. Am Ende des sechsten Jahrtausends vor Christus, im Spätneolithikum, legten Menschen hier Tongefäße wohl als Opfergaben nieder. Da Alltagsgegenstände und Hüttenreste fehlen, schließen die Forscher eine Siedlung in dieser Epoche aus. Doch Ovtscharov ist überzeugt, dass die Menschen schon damals die Felsen des Perperikon verehrten. In der darauffolgenden Kupfersteinzeit (Chalkolithikum) werden die archäologischen Funde vielfältiger. Am Ende des fünften Jahrtausends vor Christus wurden auf dem Gipfel Vertiefungen in den Stein gehauen und mit Opfergaben gefüllt: Neben Keramik lagen hier kleine Statuetten weiblicher Gottheiten, Feuersteinmesser, Pfeilspitzen, sogar Weihgaben aus Halbedelsteinen wie Amethyst und Karneol. Die wertvollen Gegenstände wurden vermutlich speziell für diesen besonderen Ort gefertigt. „Wer die Künstler waren, wissen wir nicht”, sagt Ovtscharov. Er nennt sie die „Zivilisation der Felsenmenschen” .
Kleine Tongegenstände geben Einblicke in religiöse Vorstellungen und Riten. In den vergangenen Jahren haben die Archäologen drei wenige Zentimeter große, 6000 Jahre alte Thronmodelle aus Ton geborgen – Symbole herausragender Persönlichkeiten wie Stammesfürsten oder Priester. 2007 tauchte ein weiteres Thronmodell auf mit einer kleinen Besonderheit: In der Mitte der Sitzfläche ragt ein Phallus auf. „Das ist ein einzigartiger Fund, der den Herrscherthron mit dem Fruchtbarkeitskult vereint”, interpretiert Ovtscharov. Er sieht den Thron als frühes Symbol der Heiligen Hochzeit zwischen männlicher und weiblicher Gottheit.
Damit kann man im Chalkolithikum erstmals von einem echten Heiligtum sprechen. Reste von lehmverputzten Holzwänden könnten sogar ein Hinweis auf ein frühes Kultgebäude sein. Noch aber waren die Menschen nicht in der Lage, den Fels umzugestalten. Erst Werkzeuge wie Hacken und Meißel und eine bessere Organisation ermöglichten es in der frühen Bronzezeit, den Felsgipfel gründlich zu bearbeiten und große Steinmassen herauszuschlagen. Dadurch entstand aus dem Kultplatz ab dem dritten Jahrtausend vor Christus über Jahrhunderte hinweg ein weitläufiges und komplexes System von Kultanlagen, das die umliegenden Hügel mit einbezog. Zur Zeit ihrer größten Ausdehnung im ersten Jahrtausend vor Christus bedeckte die heilige Felsenstätte eine Fläche von über zwölf Quadratkilometern und war damit über 100 Mal größer als die Fläche der später errichteten Akropolis in Athen. Auf dem Perperikon stand demnach das größte Heiligtum der Balkanhalbinsel inklusive Griechenland.
Auf dem Berggipfel entstand nach und nach eine echte Monumentalarchitektur, die nicht – wie zunächst vermutet – aus der Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus stammt. Ovtscharov wies nach, dass die großartigen Bauten bereits 1000 Jahre früher errichtet wurden. Wegen der Lage auf dem höchsten Punkt des Felsens nennt Ovtscharov das Areal ebenfalls „Akropolis” (griechisch für „Oberstadt”). Im nordwestlichen Teil des Gipfelgebiets fand Ovtscharov 2002 das eigentliche Kultzentrum: eine große Halle mit annähernd ovalem Grundriss. Zu ihr gelangte man über einen rund 100 Meter langen und 3 bis 4 Meter breiten tief in den Fels geschlagenen Gang mit grob ausgearbeiteten Stufen. Die Halle hatte einen Durchmesser von beachtlichen 35 Metern. Doch ein Dach hatte sie nicht, genau wie von Macrobius vor 1500 Jahren beschrieben. Im Fels zeugen keinerlei Löcher von Balken, die ein Dach hätten tragen können. So hatte man einen freien Blick zum Himmel – und zum Sonnengott.
Im Zentrum des Saals erhebt sich drei Meter über dem grob bearbeiteten Boden auf einem Felssockel ein runder Steinaltar mit einem Durchmesser von zwei Metern. Dunkle Spuren auf seiner geglätteten Oberfläche zeugen noch heute von Brandopfern. Neben dem Altar war ein rechteckiger Platz, vermutlich die „Bühne”, auf der der Priester die religiösen Zeremonien durchführte. Auch das passt zu der Beschreibung von Macrobius – und zu einer Nachricht Herodots: „Sie [die thrakischen Satrer] wohnen nämlich auf hohen, mit dichten Wäldern und Schnee bedeckten Gebirgen. Zu ihnen gehört auch das Orakel des Dionysos. Dieses Orakel aber ist hoch oben im höchsten Gebirge, und die Besser, ein satrischer Stamm, versehen dort im Tempel den Priesterdienst, und wie in Delphi verkündet eine oberste Priesterin die dunklen und oft schwer verständlichen Aussprüche des Orakels.” Ovtscharov vermutet deshalb, dass sich auf dem Perperikon das in der Antike berühmte Heiligtum des Dionysos befand.
DIE THRAKISCHE AKROPOLIS
Am Ende der Bronzezeit, im 13. Jahrhundert vor Christus, wurde auf dem großen Plateau der thrakischen Akropolis ein riesiger Baukomplex errichtet. Die einzelnen Teile wurden auf dem unebenen Felsuntergrund über mehrere Etagen gruppiert. In der letzten Phase erhoben sich dort 50 Hallen, Treppen und Korridore sowie Wohn- und Wirtschaftsräume. Hier waren Wohnstatt, Herrschersitz und Heiligtum für den Priesterkönig vereint. Die einzelnen Räume waren bis zu sechs Meter tief in den Fels gearbeitet.
Das frühere Heiligtum wurde in diese Palastanlage integriert. Den Mittelpunkt des neuen Palastheiligtums bildete nun eine 25 mal 7 Meter große Halle. Auch sie wurde teilweise aus dem Fels herausgeschlagen. Die übrigen Wände wurden aus glatt bearbeiteten Steinblöcken errichtet. Der Palast – vor allem der große Saal – ähnelt den Empfangsräumen (Megara) der Paläste von Mykene, Tiryns und Troja. Der Palast von Tiryns hat sogar ein ähnliches Architek- turkonzept: Ein runder Steinaltar vor dem zentralen Megaron, Ausdruck der Einheit von königlicher und priesterlicher Macht.
Keramikfunde geben Hinweise darauf, dass hier ein Sonnenkult betrieben wurde, der auch in der minoischen, mykenischen und trojanischen Kultur verbreitet war. Ein Gefäß aus dem ehemaligen Palastgebäude zeigt einen Kreis mit fünf Strahlen, die in einem Flammenkranz enden – ein Symbol des Sonnengottes, genau wie die hakenkreuzförmige Svastika. In ein anderes Gefäß ist eine Szene eingeritzt: Sechs menschliche Gestalten – Männer und Frauen – tanzen um die Sonne herum. Ihre Gliedmaßen sind als Blätter, ihre Köpfe als kleine Sonnen dargestellt. Dieses Gefäß ist etwas Besonderes, denn es wurde schon im 18. Jahrhundert vor Christus von der Küste des Marmara-Meeres zum Perperikon importiert. Auch andere Keramikfunde geben Auskunft über wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen der Thraker zum östlichen Mittelmeerraum. Bekannt sind die „trojanischen Becher”: schlanke Gefäße mit zwei hochgezogenen Henkeln, die entweder importiert oder imitiert wurden. Auch eine Steintafel, die 1982 bei den ersten Grabungen auf dem Perperikon gefunden wurde, belegt den Austausch zwischen dem östlichen Rhodopen-Gebirge und der bronzezeitlichen kretischen, mykenischen und westanatolischen Kultur. Denn auf der Tafel aus dem 15. oder 14. Jahrhundert vor Christus sind Zeichen der sogenannten Linear-A-Schrift eingeritzt. Sie wurde vor allem auf Kreta zwischen 1850 und 1400 vor Christus verwendet.
KEINE SÄUFER UND RÄUBER
Ovtscharov resümiert: „Die Ostrhodopen standen unter starkem Einfluss der Mittelmeerkultur, die sich auf den Inseln, dem kontinentalen Griechenland und in Kleinasien, einschließlich Troja, entwickelt hatte. Zu diesem Kulturkreis gehört auch die thrakische Kultur.” Ob am Beginn der Bronzezeit – sogar früher als in Troja – oder am Ende der Epoche: In Thrakien gab es eine hochentwickelte Kultur, die gleichberechtigt neben den anderen Zentren der kretischen, mykenischen und trojanischen Welt existierte. Überholt ist die alte Sicht: Hochkulturen auf den Inseln und dem griechischen Festland, „Barbaren” in den Wäldern und Gebirgen im hohen Norden. Die als Säufer und Räuber verrufenen Thraker waren vielmehr gleichberechtigte Partner oder Gegner im Kampf um einen Platz in der spätbronzezeitlichen Gesellschaft Südosteuropas. ■
RONALD SPRAFKE, Journalist und klassischer Archäologe in Potsdam, halfen seine bulgarischen Sprachkenntnisse bei der Recherche.
von Ronald Sprafke
GUT ZU WISSEN: DIE THRAKER
„Thraker” ist ein Sammelbegriff für zahlreiche Stämme im Nordosten der Balkanhalbinsel (siehe Karte S. 70). Antike Quellen zählen 90 Stämme auf, die hier nebeneinander oder nacheinander seit dem vierten Jahrtausend vor Christus siedelten. Homer berichtete in seiner „Ilias” über die Thraker als Verbündete Trojas, er nennt Stämme und deren Anführer. Bekannte Thraker sind der mythische König Orpheus und der Gladiator Spartakus, der Anführer des berühmten Sklavenaufstands im Römischen Reich.
Seit dem fünften Jahrhundert vor Christus entstanden im heutigen Bulgarien und Nordgriechenland eigenständige Königreiche. Aus dieser Zeit sind große steinerne Grabanlagen mit prächtigen Wandmalereien und Skulpturenschmuck erhalten sowie Gold und Silber en masse: Gefäße, Schmuck, Kränze, Waffen, Rüstungen. Nicht zuletzt die viele Jahrtausende zurückreichenden Kultanlagen auf dem heiligen Berg Perperikon im Rhodopen-Gebirge belegen: Die aus der Antike überlieferte und bis heute tradierte Vorstellung von Kulturzentren im Süden der Ägäis und auf den Inseln sowie von rückständigen Zivilisationen in den Wäldern und Gebirgen des Nordens lassen sich nicht mehr halten.
Da es kaum schriftliche Überlieferungen gibt, ist man auf archä-ologische Funde angewiesen, um etwas über Traditionen, Religion, Herrscher und die Gesellschaft der Thraker zu erfahren. Nur in wenigen römischen und griechischen Texten gibt es Hinweise auf ihre Geschichte. Der griechische Historiker Herodot (490 bis 425 v.Chr.) schrieb: „Die Thraker sind nach den Indern das größte Volk auf Erden.” Und: „Wenn sie ein Oberhaupt hätten oder einig wären, so wären sie unüberwindlich und meiner Meinung nach auch das mächtigste Volk. Aber das bringen sie nicht fertig.”
DER SCHWERSTE UND DER ÄLTESTE SCHATZ
· Nahe dem Dorf Valtschitran im Norden Bulgariens wurde 1924 der schwerste Goldschatz Thrakiens entdeckt: 13 aus massivem Gold gearbeitete Kultgefäße mit einem Gewicht von 12,4 Kilogramm.
· Aus der zweiten Hälfte des fünften Jahrtausends vor Christus stammen 294 Gräber bei Varna an der Ostküste Bulgariens: Körpergräber und sogenannte Kenotaphe, symbolische Gräber ohne wirkliche Bestattung. Die Ausgräber fanden darin neben kupfernen Werkzeugen und Waffen reiche Goldbeigaben wie Armreife, Ringe, Perlenketten, Applikationen und ein Zepter mit Goldschaft. Der Fund ist das älteste bearbei- tete Gold der Menschheit.
KOMPAKT
· In Zentralbulgarien haben Archäologen einen Goldschatz mit 25 000 Einzelteilen gehoben.
· Nach jahrzehntelangen Grabungen auf dem Perperikon entpuppte sich die heilige Stätte als monumentaler Baukomplex.
· Forscher schließen aus den Funden, dass die Thraker eine Hochkultur waren, vergleichbar mit den minoischen, mykenischen und trojanischen Nachbarn.
LESEN
Manfred Oppermann THRAKER, GRIECHEN UND RÖMER AN DER WESTKÜSTE DES SCHWARZEN MEERES Zabern, Mainz 2007, € 24,90
Rumen Ivanov, Gerda von Bülow THRACIA Eine römische Provinz auf der Balkanhalbinsel Zabern, Mainz 2008, € 24,90
Nikolai Ovcharov PERPERIKON – A CIVILIZATION OF THE ROCK PEOPLE Borina, Sofia 2003, $ 48,– ISBN-10: 9-545-00140-2
DIE ALTEN ZIVILISATIONEN BULGARIENS – DAS GOLD DER THRAKER Katalog zur Ausstellung im Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig Basel 2007, ca. 18 Euro ISBN-13: 978-3-905057-23
INTERNET
Informationen über das Bergheiligtum Perperikon (auf englisch und bulgarisch): www.perperikon.bg
Ausstellung „Die alten Zivilisationen Bulgariens – das Gold der Thraker” in Basel 2007: www.antikenmuseumbasel.ch/sonder/thraker
Ausstellung „Die Thraker – das goldene Reich des Orpheus” in Bonn 2004: www.kah-bonn.de/ausstellungen/thraker
PERPERIKON – WOHNSITZ UND HEILIGTUM DER PRIESTERKÖNIGE
In 470 Metern Höhe errichteten die Thraker nach und nach eine weitläufige Felsenstadt als Herrschersitz für ihre obersten Priesterkönige. Zur Zeit der größten Ausdehnung im ersten Jahrtausend vor Christus gab es auf zwölf Quadratkilometern einen Palast, Opferstätten sowie Dutzende Wohn- und Wirtschaftsräume.
THRAKIEN – DAS GOLDENE REICH
Das Reich der Thraker mit seinen üppigen Goldvorkommen lag hauptsächlich im heutigen Bulgarien und erstreckte sich im Norden bis zu den Karpaten in Rumänien. Im Süden lebten die Thraker in direkter Nachbarschaft zu den ägäischen Kulturen. Mitte des ersten Jahrhunderts nach Christus wurde Thrakien Römische Provinz.