Anzeige
1 Monat GRATIS testen. Danach zum Jubiläumspreis weiterlesen.
Startseite »

Stillgewohnheiten auf den Zahn gefühlt

Geschichte|Archäologie

Stillgewohnheiten auf den Zahn gefühlt
zahn.png
Einem australisch-amerikanischen Forscherteam sind ungewöhnlich detaillierte Einblicke in das Leben der Neandertaler gelungen – oder besser gesagt, in das Leben eines Neandertaler-Kindes, das im Alter von etwa acht Jahren im heutigen Belgien starb: Es wurde ab dem Zeitpunkt seiner Geburt gestillt, bekam dann nach etwas mehr als sieben Monaten zusätzlich feste Nahrung und musste ab einem Alter von ungefähr 14 Monaten vollständig ohne Muttermilch auskommen. Verraten hat den Wissenschaftlern das ein einzelner Milchzahn aus dem Oberkiefer des Kindes.

Wie lange ein Kind gestillt wird, beeinflusst nicht nur dessen individuelle Entwicklung und, wie sich immer mehr herauskristallisiert, die Gesundheit seiner Mutter. Die Stillgewohnheiten können auch ein entscheidender Faktor dafür sein, wie schnell eine Gesellschaft wächst und wie robust sie ist. Frühes Abstillen ermöglicht es beispielsweise, sehr schnell wieder ein Kind zu bekommen und damit das Bevölkerungswachstum zu beschleunigen, kann aber negative Folgen für die Gesundheit des Kleinen haben. Vor allem Archäologen und Anthropologen sind daher sehr daran interessiert, mehr über die Stillgewohnheiten in früheren Gesellschaften zu erfahren. Die Neandertaler sind dabei von besonderem Interesse, weil immer noch nicht klar ist, wie sie so vollständig vom eingewanderten Homo sapiens verdrängt werden konnten.

Barium als Hinweisschild

Das Problem: Bisher war es kaum möglich, etwas zum Zeitpunkt des Abstillens zu erfahren, wenn es keine Aufzeichnungen aus der entsprechenden Zeit gibt. Es fehlte schlicht ein biologischer Marker, der Auskunft über Beginn und Ende der Stillzeit geben konnte. Genau einen solchen haben Christine Austin von der Harvard University und ihr Team jetzt jedoch identifiziert: Sie bestimmten das Verhältnis von Barium zu Kalzium im Zahnschmelz von Milchzähnen. Solange ein Kind noch im Mutterleib ist, erläutern sie, nimmt es relativ wenig Barium auf, das Verhältnis ist also recht niedrig. Kurz nach der Geburt steigt der Spiegel dann plötzlich deutlich an, weil mehr Barium über die Muttermilch aufgenommen wird. Sobald zusätzlich andere Nahrung gegeben wird, sinkt das Verhältnis wieder, und wenn das Kleine entwöhnt wird, fällt es noch einmal ab.

Entdeckt haben die Forscher das mit Hilfe von Milchzähnen von insgesamt 25 Kindern, deren Mütter genau Buch über die Ernährung ihrer Kleinen geführt hatten. Dadurch konnte der Zeitpunkt von Entwöhnung und Zufüttern sehr genau bestimmt und mit den Barium-Werten abgeglichen werden. Ergänzt wurden diese Daten durch Werte von Makaken, bei denen die Forscher ebenfalls Saugverhalten und Bariumgehalt in den Milchzähnen verglichen.

Anzeige

Neandertaler-Milchzahn im Fokus

Anschließend wandten sie ihr neues Verfahren auf den Backenzahn eines Neandertaler-Kindes an, das vor 80.000 bis 125.000 Jahren im heutigen Belgien lebte. Der Zahn, bei dem es sich um den ersten Backenzahn aus dem Oberkiefer handelte, war schon einmal Gegenstand einer ausführlichen Studie gewesen. Das Alter des Kindes war daher ziemlich genau bekannt. Davon profitierten Austin und ihre Kollegen nun: Sie konnten in der Beschaffenheit des Zahnschmelzes sehr gut erkennen, wann das Kind geboren worden war und dass der Bariumgehalt direkt anschließend stark anstieg. Es folgte eine typische Zone mit hohen Werten, die auf eine ausschließliche Ernährung mit Muttermilch hindeutete und die etwa 7,5 Monate umfasste. Anschließend scheint das Kind zusätzlich andere Nahrung bekommen zu haben. Das endgültige Abstillen fand nach weiteren sieben Monaten statt.

Diese Zeitschiene passe gut zu denen anderer Hominiden, kommentiert das Team. Auch Menschen aus urtümlich lebenden Jäger-Sammler-Gesellschaften und Schimpansen beginnen mit dem Zufüttern, wenn ihr Nachwuchs etwa sechs Monate alt ist. Allerdings stillen sie im Schnitt später ab: die Jäger-Sammler nach etwa zweieinhalb Jahren und die Schimpansen erst nach mehr als fünf Jahren. Das Neandertaler-Kind scheint im Verhältnis also recht früh und auch ziemlich plötzlich entwöhnt worden zu sein: Statt der erwarteten langen Übergangsphase fanden die Forscher bei ihm nämlich einen starken Abfall des Barium-Werts nach etwa 14 Monaten. Es müsse also etwas passiert sein, das der Mutter – oder Amme – das Stillen nach dieser Zeit unmöglich machte, interpretieren sie.

Glück im Spiel

Als nächstes wollen die Forscher vergleichen, wie lange die ersten anatomisch modernen Menschen in Europa ihre Babys gestillt haben – und ob es einen deutlichen Unterschied zu den Neandertalern gab. Bevor das nicht klar sei, könne man keine Aussagen zur Bedeutung der aktuellen Ergebnisse treffen, betonen sie. Bei der Studie seien ihnen zwei Dinge zugutegekommen, erwähnen die Forscher zum Abschluss. Einerseits sei der betreffende Zahn – ebenso wie fast alle anderen Zähne aus dem Kiefer des Neandertaler-Kindes – ungewöhnlich gut erhalten gewesen. Und andererseits sei der Zahnschmelz an sich gut geschützt gegenüber Veränderungen, die sonst die meisten Gewebe im Laufe der Jahrtausende durchmachen: Er ist per se sehr mineralreich und daher stabil, und er hat nur wenig Poren oder Unebenheiten, in denen sich zersetzende Mikroorganismen festsetzen können.

Christine Austin (Harvard University, Boston) et al.: Nature, doi: 10.1038/nature12169 © wissenschaft.de – Ilka Lehnen-Beyel
Anzeige
Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Youtube Music
Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Kunst|stu|dent  〈m. 16〉 Student der Kunstgeschichte bzw. Kunstwissenschaft

Neu|ro|der|mi|tis  〈f.; –, –ti|den; Med.〉 allergische Hauterkrankung mit starkem Juckreiz, die häufig in früher Kindheit auftritt [<grch. neuron … mehr

Ether|pad  〈[ið(r)pæd] n. 15; IT〉 webbasierter Editor zur parallelen Bearbeitung von Texten in Echtzeit [<engl. ether … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige