Fast hellsichtig hatte bild der wissenschaft seinen Bericht über die Grabung in der Ramses-Stadt im Dezemberheft (“Archäologen entdecken Ägypten neu”) mit dem Satz beendet: “Wer weiß, vielleicht taucht aus dem Schlamm des Niltals der Palast des Ramses auf.” Zwei Wochen später am 6. Dezember, zwei Tage vor dem offiziellen Ende der Kampagne ’98, stieg der Adrenalinspiegel des Hildesheimer Archäologen Pusch an: Der oberägyptische Vorarbeiter Salah Ali, selbst gut geübt im Freipinseln von feinsten archäologischen Beweisstücken, machte ihn auf ein “Ding” aufmerksam:
Pusch pinselte selbst an dem wenige Quadratzentimeter grossen Stück. Zum Vorschein kam die sanfte Rundung eines Ovals – für Ägyptologen ein untrügliches Zeichen für eine Königs-Kartusche: die von einem ovalen Ring umrahmte, in Stein gemeißelte oder auf Papyrus und Wände gemalte königliche “Visitenkarte”. Pusch stoppte die Endreinigung des Areals, beorderte den Grabungsfotografen in die Grube, benetzte das Fundstück vorsichtig mit einer Sprühflasche, pinselte und blies die Quarzpartikel mit den Fön davon. Zeichen für Zeichen tauchten die verschiedenen Bestandteile des Ramses-Emblems auf. Ganz unwissenschaftlich ließ Pusch einen Jubelschrei los, spendierte Sekt für die europäische Mannschaft und doppelten Lohn für die ägyptischen Arbeiterinnen und Arbeiter. Er hatte den ohnehin reichlich vorhandenen Einmaligkeiten seiner Grabung einen weiteren wissenschaftlichen Knüller hinzugefügt.
Wissenschaftlich interessant ist weniger die 25 mal 10 Zentimeter große Kartusche oder der Prunkbau an sich – beides gibt es vom Immobilien-Tycoon Ramses II. zuhauf -, sondern der dadurch mögliche erste Blick in die Privatsphäre der ägyptischen Herrscher: Die materiellen Funden bestätigen die hymnischen Berichte der ägyptischen Geschichtsschreiber. Deren Erzählungen begegnen die Archäologen oft mit Skepsis, denn die königlichen Propagandisten deuteten durchaus auch eine militärische Beinahe-Katastrophe in einen grandiosen Sieg um.
Über die Ramses-Residenzstadt fabulierten die Hofschreiber: “Die Sonne erhebt sich innerhalb ihres Horizontes, und in demselben beendet sie auch ihre tägliche Reise”. Die jungen Männer der Stadt “kleiden sich jeden Tag in Festgewänder, sie salben ihre Häupter und frisieren ihr Haar”. Sie stehen vor ihren Häusern “mit schönen Fenstern und leuchtenden Gemächern aus Lapislazuli und Malachit”. Regie- rungsgebäude und Privatvillen, die Tempel der höchsten Götter und Getreidesilos bestimmten das Bild der Stadt ebenso wie Parkanlagen, Gärten, Kanäle und mindestens zwei Häfen. 30 Quadratkilometer soll Pi-Ramesse bedeckt haben, die Hälfte nahm allein der Palastbezirk ein – 15 Quadratkilometer, das ist etwa die Fläche des Hildesheimer Zentrums ohne die Randbezirke.
Einiges von den grandiosen Anlagen haben die geomagnetischen Messungen der letzten beiden Jahre dingfest gemacht. Es zeichnet sich allmählich ein Stadtplan der Ramses-Residenz ab, der die alten Berichte aus der Fabelwelt in die archäologische Wirklichkeit holt.
Anfaßbare Belege für das Leben in der Metropole haben die Hildesheimer Antiken-Forscher in den letzten Jahren genug geliefert: riesige Schmelzbatterien zur Herstellung von Bronze mit nachgeschalteten Brennöfen zur Produktion etwa großer Bronzetore – beides in industriellem Maßstab. Weiter fanden sie Zeugnisse einer ebenfalls großtechnische Herstellung von Roh- und Rotglas, das den Ägyptern wertvoller war als Edelsteine. Schließlich deckten sie die Stallungen, Remisen und Reparaturwerkstätten der königlichen Streitwagenarmee auf. Die Sensation des letzten Jahres aber war ein mit Goldpartikeln gepuderter Fußboden. Pusch wagt eine Zeitreise: “Der Oberbaumeister des Pharao hat in die Stuckpampe ein Säckchen mit Gold reingeschüttet, das wurde dann als Estrich glattgestrichen – es gibt praktisch keinen Quadratzentimeter ohne dieses Edelmetall.” Ramses II. wandelte tatsächlich auf Gold, was eine leise Ahnung gibt von dem unermeßlichen Reichtum und Prunk, mit dem sich Ramses und andere altägyptischen Herrscher umgaben.
Vierzig Quadratmeter mit Gold verfeinerten und blau bemalten Fußbodens haben die Emissäre des Hildesheimer Roemer- und Pelizaeus-Museums inzwischen aus dem Nilschlamm geborgen. Insgesamt sind sie bei rund 180 Quadratmeter durchgehender Bodenfläche für diesen einen Raum angelangt und ein Ende ist noch nicht abzusehen. Was die Forscher verblüfft und vorerst ratlos macht: Dieser repräsentative Raum wurde – wie viele andere Bauten der Stadt – nur kurze Zeit genutzt. Offenbar schon Ramses-Nachfolger Sethos II. klotzte die Glasfabrik in die güldene Pracht. Und Sethos II. oder sein Erbe, Ramses III., errichtete darüber die Pferdeställe der Streitwagenarmee. Die drei Epochen, 150 Jahre Geschichte, sind heute im immerfeuchten Boden des Nildeltas auf knapp einen Meter zusammengeschrumpft.
Mitten im golden glitzernden Boden schabten nun Pusch und Helfer die Kartusche des großen Selbstdarstellers Ramses II. hervor. Die Zeichen sind in den papierdünnen Stuck millimetertief eingeritzt, mit Ägyptisch-Blau gefüllt und an den Rändern mit Gelb und Rot nachgezeichnet. Das königliche Namensschild war jedoch nicht Teil des Fußbodens. Vielmehr deutet ein Muster auf der Rückseite darauf hin, daß es auf Stoff aufgetragen war – Verkleidung eines Möbelstücks? Teil eines großflächigen Sitzes? “Ich weiß es nicht”, bescheidet sich Pusch; ein Stück vom Thron wäre ihm schon recht…..
Ähnlich unklar ist die Funktion von mindestens drei weiteren Stuckfragmenten, die noch mit den Gesicht im Boden liegen, aber doch schon Bestandteile des Ramses-Namen erkennen lassen. Eventuell sind sie Teil der Gesamt-Kartusche, zusammen haben sie mehr Fläche als das Namensschild – Pusch: “Da kann es noch Überraschungen geben.” Man wird sehen, denn erst einmal fehlen dem Grabungsleiter Pusch die Finanzen für die Fortsetzung. Die Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) umfaßt nur noch die Kartierung des Stadtgebietes mit Hilfe der geomagnetischen Messungen, weitere Grabungen sind nicht vorgesehen.
Sollte die DFG nicht umdenken, sieht Pusch seine einzige Hoffnung bei vielen einzelnen Sponsoren oder einem großen Gönner (“300000 Mark wären traumhaft”). Seinen Wunsch nach Fortsetzung begründet Pusch nachvollziehbar einfach: “Bei einem solchen Fund kann man doch nicht die Grube wieder zuschütten und sagen: Das war’s dann.”