Grundlage aller Erkenntnisse über das Erbgut des Neandertalers ist die bemerkenswerte Stabilität von DNA: Es ist möglich, fossilen Überresten noch genetisches Material zu entlocken, das sich für Analysen eignet. Dadurch wurde letztlich die Rekonstruktion des Erbguts der Neandertaler möglich und damit Vergleiche zu heutigen Menschen. So stellte sich zunächst einmal heraus: Offenbar haben sich moderne Menschen mit einigen Neandertalern vermischt, als sie vor etwa 50.000 Jahren aus Afrika nach Europa kamen. Davon zeugen Spuren von Neandertaler-DNA in uns.
Das Männer-Chromosom unter der Lupe
Die Forscher um Carlos Bustamante von der Stanford University haben sich nun erstmals gezielt mit den Merkmalen des Erbguts im Y-Chromosom des Neandertalers beschäftigt. Es handelt sich dabei bekanntlich um das männliche Geschlechtschromosom: Im Gegensatz zu dem X-Chromosom wird das Y-Chromosom ausschließlich vom Vater an den Sohn weitergegeben. Die genetische Sequenz, welche die Forscher für ihre Analysen und Vergleiche nutzten, stammte von Überresten eines Neandertaler-Mannes vom spanischen Fundort El Sidrón.
Vergleiche mit den Genomen heutiger Menschen aus umfangreichen genetischen Datenbanken ergaben: Obwohl moderne Menschen oft bis zu vier Prozent Neandertaler-DNA in ihrem Genom besitzen, fanden die Forscher keine genetischen Spuren des Neandertaler-Y-Chromosoms. “Das beweist nicht zweifelsfrei, dass es völlig ausgestorben ist, aber höchstwahrscheinlich ist es so”, sagt Bustamante. Damit stellte sich die Frage: Warum ist ausgerechnet das Erbgut dieses Chromosoms verschwunden?
Den Forschern zufolge ist eine mögliche Erklärung, dass das Neandertaler Y-Chromosom Erbanlagen umfasste, die mit anderen Genen des modernen Menschen nicht kompatibel waren. Für diese Erklärung haben sie auch konkrete Hinweise entdeckt: Den Untersuchungen zufolge sitzen auf dem Neandertaler-Y-Chromosom Gene, von denen einige Varianten bei modernen Menschen mit Problemen bei der Abstoßung nach Transplantationen in Verbindung gebracht werden. Konkret: Sie ähneln genetischen Merkmalen, die bei der Transplantationschirurgie überprüft werden, um eine Kompatibilität zwischen Organspender und Organempfänger sicherzustellen.
Führte das Neandertaler-Y-Chromosom zu Fehlgeburten?
Es ist den Forschern zufolge deshalb möglich, dass das Immunsystem von Frauen männliche Föten mit Neandertaler-Y-Chromosom angegriffen hat, was zu Fehlgeburten führte. Dieser Effekt könnte nach der Kreuzung der beiden Menschenformen schon früh zum Verlust des speziellen Erbgutträgers geführt haben. Bisher handelt es sich dabei aber nur um eine Hypothese, die durch weitere Untersuchungen untermauert werden müssen, betonen Bustamante und seine Kollegen.
Neben diesen interessanten Ergebnissen bestätigten die aktuellen Untersuchungen auch bisherige Ergebnisse dazu, wann sich die Entwicklungslinien des Neandertalers und des modernen Menschen ursprünglich einmal aufgespalten hatten. Denn ähnlich wie bei der mitochondrialen DNA lassen bestimmte Merkmale des Erbguts des Y-Chromosoms zeitliche Rückschlüsse zu. Frühere Schätzungen basierend auf Analysen mitochondrialer DNA datierten die Aufspaltung auf einen Zeitraum von vor 400.000 bis 800.000 Jahren. Dies ist im Einklang mit den aktuellen Ergebnissen zum Y-Chromosoms: Demnach lebte der letzte gemeinsame Vorfahre von Neandertaler und modernem Mensch vor etwa 550.000 Jahren.