Wenn Archäologen über die vorspanischen Kulturen Südamerikas sprechen, geht es fast immer um die üblichen Verdächtigen im Hochland der Anden: die Inkas, mit ihrem hochentwickelten zentralistischen Staat, imposanten Bauwerken sowie Kulten, die als Roman- und Spielfilmvorlage taugen. Im Tiefland des Amazonas lebten dagegen laut bisheriger Lehrmeinung nur Jaguare, Affen und ein paar wilde Stämme auf Steinzeitniveau, die dem lebensfeindlichen Dschungel ein karges Dasein abtrotzten.
Doch dieses Bild ist falsch. Zurzeit stolpern Archäologen an der brasilianisch-bolivianischen Grenze immer wieder über Zeugnisse früher menschlicher Besiedlung. Warum blieben die Spuren der Amazonas-Kulturen so lange unbeachtet? Von den spanischen Eroberern gibt es widersprüchliche Berichte: Während Francisco de Orellana 1541/42 bei seiner Fahrt auf dem Amazonas viele Millionen Bewohner an den Ufern und im Hinterland gesehen haben wollte, sprachen spätere Entdecker von verstreuten Nomadenstämmen. Und die prägen bis heute unser Amazonas-Bild.
Nur Holz, keinerlei Steine
Lange glaubte niemand, dass es hier bereits vor Ankunft der Spanier Nennenswertes gegeben haben könnte. Ein weiterer Grund für das Desinteresse: Das Amazonas-Tiefland ist arm an dauerhaften archäologischen Funden. Ohne Stein als Baustoff konnten die Bewohner keine Tempel errichten wie die Hochkulturen Süd- und Mittelamerikas. Ihre Häuser bestanden aus Holz, und das zerfällt im tropisch-feuchten Klima schnell. Wie die Behausungen ausgesehen haben könnten, weiß man trotzdem – von Zeichnungen in alten Reiseberichten, die Zeremonialbauten zeigen.
Ausgerechnet die Abholzung des Regenwalds kommt den Archäologen nun zu Hilfe. Bei Flügen über gerodete Flächen entdeckten Wissenschaftler geometrische Muster, die offenbar Menschen in die Erde gegraben haben. Auch Satellitenbilder von Google Earth helfen, die bis zu 350 Meter großen Rechtecke, Vielecke und Kreise aufzuspüren. Von der Größe her können sie mit den berühmten Geoglyphen von Nasca im Süden Perus mithalten. Nur zeigen die Erdmuster im Amazonas-Becken keine kultischen Tierfiguren wie viele in Peru. Manche erinnern an Fußballfelder, andere an die modernen „Kornkreise”, mit denen Witzbolde die Landung außerirdischer Raumschiffe in Getreidefeldern vorgaukeln. Wieder andere haben keine erkennbare Geometrie.
Dürre Beweislage
Die Furchen wurden nicht bloß in die Erde geritzt, hier wurde richtig gegraben. Etwa 300 dieser Grabenanlagen haben Martti Pärssinen von der Universität Helsinki und andere Wissenschaftler allein im brasilianischen Bundesstaat Acre aufgespürt, der an die Nordspitze Boliviens grenzt. Die Muster sind über ein 1200 Kilometer großes Gebiet verteilt. Denise Schaan, Archäologin an der brasilianischen Universität in Pará, hat Holzkohlereste von dort mit der Radiokarbonmethode auf ein Alter von 700 bis 2000 Jahre bestimmt. Mangels weiterer archäologisch verwertbarer Artefakte ist die Datierung allerdings mit Vorsicht zu sehen.
Wo Beweise fehlen, schießen Spekulationen ins Kraut. Clark Erickson, Anthropologie-Professor an der University of Pennsylvania, nutzt die dürre Beweislage für seine Theorie, wonach das Amazonas-Tiefland die Heimat einer blühenden Kultur war. Er spricht von Städten mit jeweils bis zu 60 000 Einwohnern. Wenn das stimmt, müsste es in der Tat eine Art organisiertes Gemeinwesen gegeben haben.
„Alles nicht bewiesen”, widerspricht der Bonner Archäologe Heiko Prümers vom Deutschen Archäologischen Institut (DAI), der in Mojos von Menschenhand aufgeschüttete Erdhügel erforscht. Die Vielzahl von Sprachen und Dialekten im Amazonas-Becken zeuge damals wie heute von größeren und kleineren heterogenen Gruppen, die wohl nicht zentral organisiert waren. Vermutlich haben sich die Gemeinschaften nach Bedarf zusammengetan, um große Bauprojekte zu stemmen, meint Prümers. Statt einem zentralistischen Staat zu gehorchen, hatten die Bewohner Amazoniens eine Art archaisches Facebook: Sie lebten meist autark, waren aber hoch vernetzt – dafür spricht ein System von Wegen, das zwischen den Erdmustern verläuft.
Prümers prüft diese These seit Jahren in der bolivianischen Grenzregion Mojos, wo er weit über 100 Erdhügel, „Lomas” genannt, kartiert und zum Teil archäologisch untersucht hat. Manche sind klein und kaum zu sehen, andere über 16 Hektar groß. Die Plattformbauten haben eine Höhe von bis zu 20 Metern. „Die Lomas sind eine Art von Pyramiden”, ist Prümers überzeugt. „Sie sehen nur nicht so nett aus wie die Maya-Pyramiden mit ihren Steinfassaden.” Die meisten haben einen rechteckigen Grundriss, manche sind von einem vieleckigen Wall umgeben, der vermutlich die Außengrenze markierte. Für den größten, die Loma de Cotoca, haben die Erbauer rund eine halbe Million Kubikmeter Erde bewegt. Verbunden sind die Lomas durch ein kompliziertes Netz aus Kanälen und Dämmen, aus denen sich die Grenzen der Siedlungen ablesen lassen. Vermutlich, so Prümers, repräsentierte jeder Hügelcluster eine politische Gemeinschaft mit hierarchischen Strukturen.
Der Archäologe versucht, die mysteriösen Erdwerke nach ihrer Funktion zu ordnen. Sie dienten offenbar verschiedenen Zwecken, und man findet sie auch nicht alle in derselben Gegend. Die Lomas, die Prümers in Mojos untersucht hat, waren definitiv Siedlungen. Auf einem der Hügel – der Loma Salvatierra – entdeckte der Bonner Archäologe Pfostenlöcher, die auf die Existenz von Häusern hinweisen, und Keramikreste, die für eine durchgängige Nutzung zwischen 500 und 1400 n.Chr. sprechen.
Anders die „Camellones”: lang gezogene Erdhügel in der Nähe der Flüsse, die in der Regenzeit umspült wurden und den Menschen vermutlich sowohl als Wohnstelle als auch als Hochbeete für die Landwirtschaft dienten. Hier bauten die Siedler schon vor mindestens 2000 Jahren Erdnüsse und Ackerbohnen an. Forscher vermuten in den Camellones auch die Wiege von Maniok, Kautschuk, Tabak und Kakao. Außerdem ernährten sich die Siedler von Fisch, den sie während der monatelangen Überschwemmungen in einem ausgeklügelten System von Kanälen, Becken und Reusen fingen.
Prümers kritisiert, dass Erickson „diese Hügel und Gräben in einen Topf wirft, kräftig umrührt und daraus das Bild einer homogenen Kultur kocht”. Statt archäologischer Fakten präsentierten Erickson und seine Kollegen einen bunten Strauß an Interpretationen, die so spektakulär wie unbewiesen sind.
Landwirtschaft und Fischzucht
Einig ist sich die Zunft immerhin in einem wichtigen Punkt: Die frühere These, wonach die Tiefland-Bewohner quasi von der Hand in den Mund lebten, muss revidiert werden. Die Menschen betrieben damals ausgedehnte Landwirtschaft und Fischzucht. Egal, wozu die mysteriösen Erdmuster gedient haben – sie beweisen, dass die Einwohner des Amazonas-Tieflands ihre Umwelt massiv umgestaltet haben. Wo die Abholzung des Regenwalds Wälle und Gräben zutage fördert, kann auch zur Zeit ihrer Entstehung kein Wald gewesen sein. Dazu sind die Muster zu geradlinig in den Boden gegraben. Unklar ist, ob die Bewohner damals bereits große Flächen rodeten, oder ob ein trockeneres Klima für weniger Bewuchs sorgte.
Für eine intensive landwirtschaftliche Nutzung spricht auch die Verbreitung der Terra Preta. Diese „Schwarze Erde” bedeckt mindestens zehn Prozent der gesamten Fläche Amazoniens von gut sechs Millionen Quadratkilometern. Früher war umstritten, ob der fruchtbare schwarze Humus überhaupt von Menschen stammt. Das steht heute außer Frage: „Wo wir Terra Preta finden, gibt es immer Siedlungsspuren”, versichert Bruno Glaser, Bodenbiochemiker an der Universität Wittenberg-Halle. Auch die Zusammensetzung deutet auf einen menschlichen Ursprung hin: Knochen, Speisereste, Fäkalien und Keramikbrösel sind wichtige Bestandteile, ebenso wie Biokohle, die nach Waldbränden zurückblieb. Die bis zu einen Meter dicke Terra Preta entstand zunächst vermutlich als Zufallsprodukt aus Komposthaufen und wurde dann später gezielt zum Düngen des Bodens hergestellt.
Aus der Zusammensetzung des Bodens kann Glaser herauslesen, wie die Menschen gelebt haben. Stabile Isotope des Stickstoffs bestätigen, dass hier eine gezielte Kompostierung stattgefunden hat. Und aus der Anreicherung mit Phosphor lässt sich auf die Einwohnerzahl schließen. Auf einer 16 Hektar großen Fläche fand Glaser so viel Phosphor, wie 1000 Menschen in 500 Jahren ausscheiden. Hochgerechnet auf das gesamte Einzugsgebiet des Amazonas könnten sich die Einwohner also auf die vielen Millionen summiert haben, die der Konquistador Orellana einst gesehen haben will.
Bisher fanden die Bodenkundler Terra Preta vor allem in der Nähe von Flüssen, wo auch die meisten Camellones und Lomas liegen. Allerdings haben die Wissenschaftler bisher auch nur dort gesucht, weil sie davon ausgingen, dass Siedlungen immer in der Nähe von Wasser entstehen. Inzwischen vermuten sie, dass es überall in Amazonien menschliche Spuren gibt. Denn manche finden sie, ohne danach gesucht zu haben: 2009 weihte die Erdölfirma Petrobras eine 670 Kilometer lange Gaspipeline von Manaus nach Urucu ein. Bei ihrem Bau durch den Urwald waren die Arbeiter alle paar Kilometer auf die fruchtbare Schwarze Erde gestoßen.
Von Städten mit Zigtausenden Einwohnern kann dennoch keine Rede sein, meint Prümers. Man dürfe die möglichen Einwohnerzahlen, berechnet aus der Vielzahl von Siedlungsspuren, nicht einfach addieren. Den Kalkulationen fehle die zeitliche Dimension. Die Siedlungen habe es gegeben, aber nicht gleichzeitig. Prümers ist überzeugt: Dörfer wurden errichtet, jahrzehntelang genutzt, dann verlassen und an anderer Stelle wieder aufgebaut. Vielleicht kamen Nachfahren Hunderte Jahre später zurück und errichteten auf den Resten neue Siedlungen. Es war ein ständiges Kommen und Gehen.
Mit einer dünnen Besiedlung über viele Jahrhunderte lässt sich sowohl die Menge an Terra Preta als auch die große Zahl der Hügelanlagen erklären, ist der Archäologe überzeugt. „Das Amazonas-Gebiet ist keine historische Einheit”, betont Heiko Prümers. Das macht die Kultur – oder besser: den Mix aus vielen kulturellen Facetten – so schwer fassbar.
Rätselhaftes Verschwinden
Aber warum verschwanden die Kulturen Amazoniens so plötzlich? Fest steht: Von den ersten Spaniern eingeschleppte Krankheiten verbreiteten sich so rasant, dass sie schon vor der Ankunft der ersten Konquistadoren Mitte des 16. Jahrhunderts einen großen Teil der Bevölkerung hinwegrafften. Viele Siedlungen sind wohl schon vor 1400 n.Chr. ausgestorben, rund 100 Jahre bevor Kolumbus seinen Fuß auf amerikanischen Boden setzte. Nur am Fuß der Anden überdauerten vernetzte Gemeinschaften lokaler Herrscher, die mit den Inkas verbündet waren. Das berichteten 1535 die letzten Verwaltungsbeamten der Inkas dem Konquistador Francisco Pizarro. Für Stammeskriege als Ursache einer Selbstdezimierung gibt es keine Anhaltspunkte. Viel wahrscheinlicher für das Verschwinden der Kulturen sind Krankheiten oder Hungersnöte.
Im Amazonas-Dschungel warten noch einige Überraschungen – davon ist Heiko Prümers überzeugt. Viele der Erdwerke sind zwar kartiert, die meisten wurden aber noch nicht archäologisch untersucht. Es ist also durchaus möglich, dass darin Spuren von Gebäuden und Gräbern auftauchen. Die Archäologen hoffen, dann endlich mehr über die Lebensweise der einstigen Bevölkerung und auch über das Verschwinden der Amazonas-Kulturen zu erfahren. ■
RODICA MEYERS, promovierte Ethnologin und Alt-Amerikanistin, hat eine Kultur im Hochland Boliviens erforscht.
von Rodica Meyers
Kompakt
· Riesige Muster im Boden Amazoniens lassen vermuten, dass es hier vielleicht schon vor 2000 Jahren große organisierte Gemeinschaften gab.
· Ein Archäologe hat zudem pyramidenartige Erdhügel entdeckt.
· Die damaligen Siedler betrieben Landwirtschaft und stellten Terra Preta her, einen fruchtbaren Humus.
LESEN
Charles Mann 1491 New Revelations of the Americans Before Columbus Vintage, New York 2006, € 15,30
INTERNET
Homepage von Clark Erickson: www.sas.upenn.edu/anthropology/people/erickson
Das DAI-Projekt im bolivianischen Mojos: www.dainst.org/de/project/ moxos-bolivien?ft=all