Die Bakterien in unserem Mund sind nicht nur wichtig für unsere Gesundheit, sie geben auch wertvolle Informationen über unsere Evolution. Aus Zahnbelägen verschiedener Affenarten sowie von Neandertalern und Homo sapiens aus den letzten 100.000 Jahren rekonstruierten Forscher, welche Bakterien die Münder unserer Vorfahren und entfernten Verwandten besiedelt haben. Manche Bakteriengruppen begleiten uns demnach wahrscheinlich schon seit 40 Millionen Jahren. Die fossile Mundflora gibt außerdem erstaunliche Einblicke in die Ernährung der frühesten Menschen und lässt zudem auf mögliche Paarungen zwischen Menschen und Neandertalern schließen.
In unserem Mund leben hunderte verschiedener Bakterienarten. Viele tragen zu einem gesunden Milieu bei, andere können Krankheiten wie Karies und Parodontitis auslösen. Sie tummeln sich in unserem Speichel und auf unseren Schleimhäuten und bilden einen Biofilm auf unseren Zähnen. Dieser Biofilm kann in Form von Zahnstein über Jahrtausende erhalten bleiben. So lässt sich anhand fossiler Zähne darauf schließen, welche Bakterien einst darauf lebten.
100.000 Jahre alter Zahnstein
Ein Team um James Fellows Yates vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena hat nun die Zahnbeläge von 124 Individuen untersucht, darunter heute lebende Menschen, Gorillas, Schimpansen und Brüllaffen sowie Fossilien von frühen modernen Menschen und Neandertalern. Mithilfe neuer computerbasierter Ansätze rekonstruierten die Forscher aus der DNA im versteinerten Zahnstein das Mikrobiom aus den Mündern unserer Vorfahren und verglichen es mit dem heutiger Individuen.
„Wir konnten zeigen, dass bakterielle DNA aus der Mundflora mindestens doppelt so lange erhalten bleiben kann, wie bisher angenommen“, sagt Yates. Das älteste untersuchte Genom stammte von einem Neandertaler aus der Pešturina-Höhle in Serbien und war 100.000 Jahre alt – mehr als 50.000 Jahre älter als das zuvor älteste rekonstruierte Mikrobiom. „Die Werkzeuge und Techniken, die in dieser Studie entwickelt wurden, eröffnen neue Möglichkeiten zur Beantwortung grundlegender Fragen in der mikrobiellen Archäologie und werden eine breitere Erforschung der Beziehung zwischen Menschen und ihrem Mikrobiom ermöglichen“, so Yates.
Koevolution zwischen Bakterien und Wirt
Gemeinsam mit seinen Kollegen identifizierte er in den Zahnbelägen zehn Bakteriengruppen, die bei allen untersuchten Individuen vorkamen. Da sich diese Bakterien sogar bei den nur entfernt verwandten Brüllaffen fanden, gehen die Forscher davon aus, dass sich dieses Kernmikrobiom bereits vor 40 Millionen Jahren entwickelt hat. „Von den meisten Bakterien, die Teil des Kernmikrobioms sind, ist heute bekannt, dass sie wichtige strukturelle und funktionelle Rollen bei der Bildung und Reifung von Plaque spielen“, erläutern die Forscher. „Das deutet auf tiefe koevolutionäre Beziehungen zwischen diesen Taxa und ihren Wirten hin.“
Neben einigen gesundheitsförderlichen Bakterien fanden Yates und Kollegen auch solche, die heute mit der Entstehung von Parodontitis in Verbindung gebracht werden. „Ihr Vorhandensein im Kernmikrobiom unterstützt die Hypothese, dass es sich bei ihnen nicht um Pathogene im herkömmlichen Sinne handelt, sondern dass ihr pathogener Charakter beim heutigen Menschen mit einem Ungleichgewicht zwischen dem Biofilm und dem Wirt zusammenhängen könnte“, so die Forscher.
Einblicke in Lebensweise und Ernährung
Abgesehen von diesem Kernmikrobiom stellten die Forscher fest, dass sich die Mundflora von Menschen und Neandertalern besonders stark ähnelt. Insbesondere eine Gruppe früher Menschen aus dem eiszeitlichen Europa teilte sich mit den zur gleichen Zeit lebenden Neandertalern einige Bakterienstämme, die sich bei anderen damaligen und heutigen Menschen nicht fanden. Da das orale Mikrobiom typischerweise in der frühen Kindheit von Bezugspersonen erworben wird, deutet dieses Ergebnis aus Sicht der Forscher darauf hin, dass Neandertaler und frühe Menschen sich nicht nur miteinander fortgepflanzt haben, sondern auch gemeinsam für ihre Kinder gesorgt haben. „Orale Bakterien bieten eine überraschende Möglichkeit, die Interaktionen von Menschen und Neandertalern vor Zehntausenden von Jahren zu rekonstruieren“, sagt Yates Kollegin Irina Velsko. „Die Überschneidung von menschlicher und mikrobieller Evolutionsbiologie ist faszinierend.“
Auch bezüglich der Ernährung unserer Vorfahren machten die Forscher eine überraschende Entdeckung: Sowohl bei damaligen und heutigen Menschen als auch bei Neandertalern fanden sie eine Untergruppe von Streptokokken, die sich speziell an den Konsum von Stärke angepasst haben – und zwar auch bei Individuen, die lange vor der Einführung des Ackerbaus gelebt haben. Das lässt darauf schließen, dass unsere Vorfahren bereits früher als gedacht stärkereiche Nahrungsmittel wie Knollen, Wurzeln und Samen zu sich nahmen. Womöglich könnte diese energiereiche Nahrung sogar dabei geholfen haben, das für unsere Spezies typische große Gehirn zu entwickeln.
„Zu rekonstruieren, was bei unseren frühesten Vorfahren auf dem Speisezettel stand, ist eine große Herausforderung, aber unsere Mundbakterien können wichtige Hinweise für das Verständnis der frühen Ernährungsumstellungen liefern, die uns einzigartig gemacht haben“, sagt Yates Kollegin Christina Warinner. „Bakterielle Genome entwickeln sich viel schneller als das menschliche Genom, was unser Mikrobiom zu einem besonders empfindlichen Indikator für wichtige Ereignisse in unserer fernen und jüngsten evolutionären Vergangenheit macht.“
Quelle: James Fellows Yates (Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte, Jena) et al., Proceedings of the National Academy of Sciences, doi: 10.1073/pnas.2021655118