Heutige Menschen unterscheiden sich von anderen Primaten insbesondere durch ihr großes Gehirn mit besonders ausgeprägtem Frontallappen. Doch anders als bisher angenommen stand die moderne Gehirnstruktur nicht am Anfang der Entwicklung der Gattung Homo. Wie eine neue Studie zeigt, hatten unsere Vorfahren bis vor etwa 1,7 Millionen Jahren kleinere, eher affenartige Gehirne. Trotzdem benutzten sie bereits Werkzeuge und waren sogar in der Lage, Afrika zu verlassen und in kälteren Regionen zu überleben. Das belegen Fossilfunde aus Dmanisi im heutigen Georgien. Die Ergebnisse werfen ein neues Licht auf die Evolution des menschlichen Gehirns.
Die frühesten fossilen Spuren der Gattung Homo sind bereit 2,8 Millionen Jahre alt. Hatten unsere frühmenschlichen Vorfahren bereits zu diesem Zeitpunkt ein Gehirn, das in Größe und Struktur mit unserem vergleichbar ist? Lange gingen Wissenschaftler davon aus, dass eine moderne Gehirnstruktur bereits am Übergang des Vormenschen Australopithecus zur Gattung Homo stand und den Grundstein für die weitere Entwicklung des Menschen legte. Nachweise waren allerdings schwierig. Da das Gehirn selbst nicht versteinert, können Forscher lediglich die Abdrücke im Inneren fossiler Schädel untersuchen und daraus Rückschlüsse darauf ziehen, wie groß das Gehirn war und welche Strukturen besonders viel Raum eingenommen haben.
Out of Africa mit primitivem Gehirn
Ein Team um Marcia Ponce de León von der Universität Zürich hat nun herausgefunden, dass das moderne menschliche Gehirn später entstanden ist als bisher angenommen. Für ihre Studie untersuchten die Forscher rund 40 fossile Schädel von Frühmenschen, die vor ein bis zwei Millionen Jahren in Afrika und Eurasien gelebt haben. Um die Gehirne zu rekonstruieren, analysierten sie die Furchen und Rillen an der Innenseite der Schädel mit Hilfe der Computertomographie. Ihre Ergebnisse verglichen sie mit Daten von modernen Menschen und Menschenaffen.
„Gemäß unseren Analysen haben sich die modernen menschlichen Gehirnstrukturen erst vor 1,5 bis 1,7 Millionen Jahren herausgebildet – und zwar in afrikanischen Homo-Populationen“, sagt Ponce de Leóns Kollege Christoph Zollikofer. Aufschlussreich waren für die Forscher vor allem gut erhaltene Schädel aus der Fundstelle Dmanisi im heutigen Georgien. Sie stammen von der ersten bekannten Homo-Population außerhalb Afrikas und sind fast 1,8 Millionen Jahre alt. Den Analysen zufolge waren die Gehirne dieser Frühmenschen noch ebenso klein und ursprünglich wie die früher afrikanischer Verwandter. „Unsere Daten zeigen, dass sich das das moderne Gehirn nicht beim Übergang vom Australopithecus zum Homo entwickelte, sondern erst deutlich später, nachdem bereits die ersten Frühmenschen Afrika verlassen hatten“, schreiben die Forscher.
Hirnregionen für komplexeres Denken
Moderne Gehirne zeichnen sich nicht nur durch ein größeres Volumen aus, sondern auch durch eine neue Struktur bestimmter Hirnregionen. „Typisch menschlich sind primär jene Regionen im Stirnbereich, die für die Planung und Ausführung von komplexen Denk- und Handlungsmustern und letztlich auch für die Sprache zuständig sind“, sagt Ponce de León. Da diese beim Menschen deutlich vergrößert sind, verlagerten sich alle benachbarten Hirnregionen weiter nach hinten.
Die frühesten Hinweise auf ein solches modernes Gehirn fanden die Forscher bei Schädeln aus Afrika mit einem Alter zwischen 1,7 und 1,5 Millionen Jahren. „In diesem Zeitraum haben sich wohl auch die frühesten Formen menschlicher Sprache entwickelt“, so Ponce de León. Auch die Vielfalt der Werkzeuge nahm zu. Biologische und kulturelle Evolution gingen nach Ansicht der Forscher demnach Hand in Hand und bedingten sich gegenseitig. Fossilfunde aus Java zeigen, dass die neuen Populationen äußerst erfolgreich waren. Bereits kurz nach ihrem Erscheinen in Afrika hatten sie sich bis nach Südostasien ausgebreitet.
Neue Fragen zur Evolution des Gehirns
Doch auch die Frühmenschen aus Dmanisi waren trotz ihrer primitiveren Gehirnstruktur offenbar bereits in der Lage, zahlreiche Werkzeuge herzustellen, sich an die neuen Umweltbedingungen Eurasiens anzupassen, tierische Nahrungsquellen zu erschließen und sich um hilfsbedürftige Gruppenmitglieder zu kümmern. Das belegen archäologische Funde. Inwieweit sich Frühmenschen aus der ersten Auswanderungswelle mit späteren Populationen mit größerem Gehirn gemischt haben oder ob sie von ihnen verdrängt wurden, ist unklar. „Um das zu beurteilen, werden zusätzliche fossile und archäologische Belege benötigt“, so die Forscher.
Offenbar war das moderne Gehirn aber keine Voraussetzung dafür, Afrika zu verlassen und in unbekannten Regionen zu überleben. Das wirft neue Fragen zur Evolution des menschlichen Gehirns auf: „Welche Art von Selektionsdruck könnte für die Neuorganisation der Frontallappen verantwortlich gewesen sein?“, fragt die Paläoanthropologin Amélie Beaudet von der University of Cambridge in einem Begleitartikel zur Studie, der ebenfalls in der Fachzeitschrift “Science” veröffentlicht wurde. Denkbar sei aus ihrer Sicht, dass die neuen Strukturen im Bereich des Frontallappens womöglich gar nicht durch einen bestimmten Selektionsdruck entstanden sind, sondern nur Nebenprodukt anderer Veränderungen waren. „Die Entstehung der Sprache wäre dann das Ergebnis einer evolutionären Zweckentfremdung gewesen“, so Beaudet. „Zukünftige Entdeckungen neuer Exemplare aus dieser Zeitspanne werden von entscheidender Bedeutung sein, um den evolutionären Kontext dieser Gehirnveränderungen zu verstehen.“
Quelle: Marcia Ponce de León (Universität Zürich) et al., Science, doi: 10.1126/science.aaz0032