In den Kriegen der vergangenen 50 Jahre sind wesentlich mehr Menschen ums Leben gekommen, als aus den bisherigen Statistiken hervorgeht. Das sagen US-Wissenschaftler, die ein eigenes Verfahren zur Abschätzung der Zahl der Getöteten entwickelt haben. Es basiert auf Umfragen, bei denen die Befragten Auskunft über das Schicksal aller ihrer Geschwister geben, woraus dann auf die Zahl der Opfer eines Krieges geschlossen werden kann. Bei ihrem Verfahren griffen die Forscher von der Universität von Washington in Seattle auf Daten der Weltgesundheitsorganisation WHO zurück, die 2002 und 2003 erhoben worden waren.
Bisherige Schätzungen der Zahl der in den vielen Kriegen der vergangenen Jahrzehnten Getöteten basieren auf häufig eher vagen Medien- und Augenzeugenberichten, auf demografischen Untersuchungen, bei denen aus den Veränderungen der Bevölkerungszahl und -zusammensetzung auf die Zahl der Opfer geschlossen wird, oder aus Daten, die aus Umfragen in einzelnen Haushalten erhoben werden. Einen weit besseren Ansatz sehen Ziad Obermeyer und seine Kollegen darin, einzelne Mitglieder einer Familie nach möglichen Kriegsopfern unter den eigenen Geschwistern zu fragen. So könne eine größere Zahl möglicher Opfer erfasst werden ? ohne die Gefahr, dass Opfer doppelt gezählt werden.
Solide erfasstes Datenmaterial stand den Forschern für diesen Ansatz ebenfalls zur Verfügung: die große Gesundheitsstudie World Health Survey der WHO, aus der die Wissenschaftler auf die Opferzahlen von Kriegen in 13 Ländern der Erde in den vergangenen fünf Jahrzehnten schließen konnten. Insgesamt kamen Obermeyer und seine Kollegen auf deutliche höhere Opferzahlen, als aus den bisherigen Statistiken hervorgeht: Beispielsweise gingen Statistiker bisher beim Vietnamkrieg von rund zwei Millionen Toten aus. Nach den Daten der Forscher kamen bei dem Konflikt jedoch rund 3,8 Millionen Menschen ums Leben. Eine ähnliche Abweichung gab es für die Zahl der Kriegsopfer weltweit zwischen 1985 und 1994: Statt jährlich durchschnittlich rund 137.000 Toten wie bisher angenommen könnten es sogar 378.000 gewesen sein, ergab die Auswertung.
Insgesamt könne man daher nicht davon ausgehen, dass in den vergangenen fünfzig Jahren die Zahl der Kriegsopfer weltweit gesunken sei, wie immer wieder argumentiert werde, sagen die Wissenschaftler. Sie betonen zudem, dass ihr Verfahren wie viele Schätzungen nur die unmittelbar bei Kampfhandlungen Getöteten umfasst. Bei vielen Kriegen ist die eigentliche Zahl der Opfer durch Kriegsfolgen wie Hunger und Seuchen sehr viel höher. Dies trifft besonders für schlecht entwickelte Länder zu, in denen derzeit auch die meisten Kriege geführt werden.
Ziad Obermeyer (Universität von Washington in Seattle) et al.: British Medical Journal, Online-Vorabveröffentlichung, DOI: 10.1136/bmj.a137 ddp/wissenschaft.de ? Ulrich Dewald